Wer kann Schuld und Leid aufrechnen?

„Niemandsland - The Aftermath“ von James Kent

von Renate Wagner

Niemandsland
(The Aftermath – GB/USA 2018)

Regie: James Kent
Mit: Keira Knightley, Jason Clarke, Alexander Skarsgård u.a.
 
Es war Euripides, der in seinem Drama „Die Troerinnen“ erstmals sein Interesse den Besiegten zugewendet hat. Man weiß um das „Vae victis!“, das „Wehe den Besiegten“, aber im allgemeinen kümmert man sich um diese wenig. Natürlich auch, weil Geschichte von den Siegern geschrieben wird – und die Besiegten folglich nicht gut wegkommen. Aber jedermann weiß ohnedies, wie heikel der Umgang mit Geschichte ist.

Wenn man nun einem Film begegnet, der, basierend auf einem Roman („Aftermath“ von Rhidian Brook, der selbst im Nachkriegs-Deutschland aufgewachsen ist), sich ausgewogen und ungemein menschlich mit der Sieger-Besiegten-Problematik auseinandersetzt, dann hat man schon a priori einmal eine vom Klischee abweichende Geschichte vor sich.
„Niemandsland“ heißt ursprünglich „Aftermath“, und das sind die Nachwirkungen eines Ereignisses. In diesem Fall ist man 1946 im zerbombten Hamburg, und der englische Offizier, der seine Frau vom Bahnhof abholt, damit sie seine Dienstzeit im Nachkriegs-Deutschland mit ihm verbringt, ist nicht in triumphierender Stimmung. Er sieht das Trümmer-Elend und weiß, daß in Hamburg in kürzester Zeit mehr Bomben fielen als auf London während des gesamten Krieges. Als ob man dergleichen aufrechnen könnte.
Es geht also um einen Mann, der nicht in Schwarz-Weiß denkt, sondern seine Aufgabe darin sieht, die chaotischen und desolaten Verhältnisse zu ordnen und beim Aufbau zu helfen, wenngleich die Haupttätigkeit der Besatzer sich auf die Suche nach den Nazi-Parteimitgliedern und Kriegsverbrechern bezieht und jeder Deutsche a priori verdächtig ist.
Colonel Lewis Morgan macht es anders. Als er mit Gattin eine Prachtvilla bezieht, die man ihm zugewiesen hat, wirft er den Hausherrn, den Architekten Stefan Lubert, und seine halbwüchsige Tochter nicht hinaus, wie er es ohne weiteres tun könnte, sondern bietet ihnen an, am Dachboden wohnen zu bleiben. Das Personal darf ohnedies bleiben – jede Oberschicht braucht die dienende Zunft.
 
Nun läuft die Geschichte auf zwei Ebenen. Die „private“ würde fast wie eine obligate Dreiecksgeschichte wirken, wenn nicht so viel psychologische Glaubwürdigkeit darin enthalten wäre. Die offizielle zeigt die Ressentiments jener englischen „Besatzer“, die nicht über die Noblesse eines Colonel Morgan verfügen, wobei auch dessen Gattin Rachel eigentlich voll Abneigung gegen „die Deutschen“ erfüllt ist: Ihr kleiner Sohn ist bei einem Luftangriff ums Leben gekommen. Die Gattin von Stefan Lubert allerdings auch. Wer kann Schuld und Leid aufrechnen?
Die Briten mit ihrem eleganten Leben, während die Deutschen hungern, in ihrem Haß gegen die Sieger ersticken und alte Nazis junge Leute zum blutigen Widerstand manipulieren (wo sich auch Luberts Tochter hineinziehen läßt). Und nebenbei der über die Maßen beschäftigte Colonel – und die schöne einsame Rachel im großen Haus, und der ruhige, sympathische, noble Deutsche unter dem Dach. Zwei seelisch ausgetrocknete Menschen, die im Grunde mit allem abgeschlossen haben, aber an einander wieder entdecken, daß es noch Gefühle gibt, daß sie noch etwas empfinden können.
Für Keira Knightley als Rachael Morgan, die völlig erstarrt in Deutschland ankommt (nicht nur der Kälte wegen), weil sie und ihr Mann durch seine Überbeschäftigung nie dazu gekommen sind, den Tod des Sohnes zu verarbeiten, bedeutet das wieder eine wunderbare Rolle – das Aufblühen durch Gefühl, aber der logische Konflikt, wenn man zwischen zwei Männern steht, die fraglos menschlich gleich wertvoll sind. Ein neues Leben – oder das alte noch einmal versuchen? Man wird’s nicht verraten, aber sowohl Jason Clarke als ihr Gatte, der ideale Brite, und (der Skandinavier) Alexander Skarsgård als der ideale Deutsche wären es jeder wert, daß eine so wundervolle Frau ihr Leben mit ihnen verbringt.
 
Im übrigen hat Regisseur James Kent ein gänzlich zerbombtes Deutschland so überzeugend vor die Kamera gebracht, daß man meint, den Staub zu atmen und Hunger und Kälte zu spüren – wenn man nicht im Club bei den englischen Ladies ihren „Teas“ beiwohnt und ihrem Geschnatter zuhört… Der fatalen Tatsache, daß dergleichen (auch das Elend) im Film immer viel schöner und reizvoller aussieht als es wohl in Wirklichkeit war – dem entkommt man nicht. Das hat Kino so an sich. Aber das mindert den Wert dieser filmischen „Vae victis“-Erzählung nicht im geringsten, denn es ist genug Sperrigkeit vorhanden, um der Glätte zu entgehen…
 
 
Renate Wagner