Gedankensenke

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von Andreas Steffens

Foto © Zbigniew Pluszynski

Gedankensenke

Eine Kolumne von Andreas Steffens

senke eine ausgehöhlte form, andern dingen darin ihre gehörige gestalt zu geben’ Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch


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Gibt es Erstaunlicheres als das, worüber gestaunt wird?


Staunen darüber, daß im - soweit bisher einsehbar - unbelebten All just auf der vergleichsweise winzigen Erdkugel zuerst lebendige Zellen, dann immer komplexere Zellorganismen entstehen konnten - bis hin zu denen, die sich ihrer selbst bewußt und also denkfähig sind (Kurt Marti, Von der Weltleidenschaft Gottes. Denkskizzen, Stuttgart 1998, 7).

Ein Theologe muß wohl genau so staunen, so offenbarungszielgewiß.

Aber die anderen? Sie tun es meistens auf dieselbe Weise, indem sie der Suggestion einer humanen Gattungseitelkeit folgen, zu deren Begründung die christliche Theologie nicht nur viel beigetragen hat, zu der sie manchmal geradezu erfunden erscheint.

Selbst Philosophen unterliegen ihr. Besonders dann, wenn eine Berufung, an der Weltrettung mitzuwirken, sie ereilt hat.

Darin regt sich der Stolz, Teil der durch äußerste Unwahrscheinlichkeit ausgezeichneten Lebensform zu sein. Er läßt ‘das’ Leben für staunenswert halten.

Wieso aber staunt intelligent Lebendiges so sehr über das Leben, das ihm doch das Selbstverständlichste weil Vertrauteste sein müßte? Es ist immerhin das einzige von allem, was es gibt in der Welt, das es wirklich kennt. Wenn auch nicht versteht. Einmal entstanden, ist das Leben für den Lebendigen kein Wunder mehr, ist ihm seine Lebendigkeit doch das einzig Vertraute und Gewisse, und ein Wunder nur, was nicht geschehen kann, bis es geschehen ist.

Unendlich erstaunlicher sollte es scheinen, warum nicht alles, was in der Welt ist, lebt, wenn es die ‘Weltleidenschaft’ Gottes sein soll, was sie hervorbrachte, und Gott lebendiger Geist. Wenn Leben möglich ist, warum gibt es dann nach seiner Schöpfung oder Entstehung noch Steine, Wüsten aller Art, Unbelebtes?

Vielleicht, daß des Schöpfers Vorrat an Seelen begrenzt und schnell verbraucht war, denn ohne Beseelung kein Leben? Die metaphysische Wahrscheinlichkeit einer Begrenztheit alles Seienden legt das nahe. Hier gilt das Goethewort im vollen Maße, daß der Sinn des Lebens im Leben zu suchen sei. Das Universum hat stets die gleiche Kapazität. Jede Entwicklung ist nicht mehr als eine Verlagerung von Schwerpunkten (Ernst Jünger, An der Zeitmauer, Stück 44).

Dann gibt es alles nur, weil anderes nicht mehr ist: etwas kann nur entstehen, sobald etwas vergangen ist. Das sollte nicht das Allererstaunlichste sein?

Für einen begrenzten Seelenvorrat spräche auch das Erfordernis einer Minimalökonomie der Überschaubarkeit, wie sie die Pragmatik der Auferstehung, des Kerns christlichen Glaubens, erforderlich erscheinen läßt. Dann läßt die Begrenztheit der Schöpfung eine Unbegrenztheit an Geschöpfen nicht zu. Auf die darin lauernde Suggestion einer Wahrscheinlichkeit der Seelenwanderung konnte ein auf die Einzigartigkeit der individuellen Seele gebautes Christentum sich nicht einlassen.

Die Pragmatik der Auferstehung bestimmt die Pragmatik der Apokalypse. Sie bereitet sich mit dem Schwund des Gedenkens vor.

Noch sind sie um uns, die Toten, aber manchmal glaube ich, daß sie vielleicht bald verschwinden werden. Jetzt, da wir auf dem Punkt sind, wo die Zahl der auf der Erde Lebenden im Verlauf von nur drei Jahrzehnten sich verdoppelt hat und mit der nächsten Generation nochmals verdreifachen wird, brauchen wir uns vor dem einst übermächtigen Volk der Toten nicht mehr zu fürchten. Zusehends nimmt ihre Bedeutung ab. Von ewigem Andenken und Ahnenverehrung kann nicht mehr die Rede sein. Ganz im Gegenteil müssen die Toten nun so schnell und gründlich beiseite geräumt werden wie möglich. (...). Und aus einer gedächtnislosen Gegenwart heraus und angesichts einer vom Verstand keines einzelnen mehr zu erfassenden Zukunft werden wir am Ende selber das Leben lassen ohne das Bedürfnis, eine Weile wenigstens noch bleiben oder gelegentlich zurückkehren zu dürfen (W.G. Sebald, Campo Santo, in: Akzente, 50. Jahrgang, Heft 1, Februar 2003, 3-14; 13 f.).

Die Melancholie des Metaphysikers, der inmitten der Vielzuvielen die Vernichtung des Individuums und mit ihm das Verschwinden des Lebenssinns trostlos erfährt, weist auf die Beschleunigung hin, die sich im Lebensprozeß der Gattung hin auf die Erschöpfung des göttlichen Seelenvorrates vollzieht.

Das Ende scheint näher gerückt; und gewiß ist es sowieso. Die Gewißheit, es liege in unendlich unkalkulierbarer Ferne, nimmt ab, und beginnt, sich als eine Gestalt der Gattungseitelkeit zu erweisen, die uns die Idee von der kosmischen Notwendigkeit unseres Lebens eingab.

Erstaunlich, wie wenig das bisher Theologen Lust auf eine Wiederentdeckung der Apokalyptik zu machen scheint. Stattdessen entdecken sie lieber die Rettung der Welt als ihre Angelegenheit.

 

© Andreas Steffens - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2007