Der alte Mann 19

(...und die Größe)

von Erwin Grosche

© Joachim Klinger

Der alte Mann und die Größe
 
Der alte Mann ging mit seinem Hund spazieren. Er hatte wieder seinen Wintermantel aus dem Schrank geholt. Es war kalt, grau und neblig. Der Hund lief freudig schnuppernd den anderen Hunden entgegen, die auf der großen Wiese einem Ball nachhetzten. Der alte Mann war verstimmt. „Wie groß sind sie eigentlich?“, hatte ihn eine Frau gefragt, als wäre er gestern beim Baden eingelaufen. Sie hatte ihn mit ihrem Geländewagen auf dem Parkplatz am Sportplatz fast umgefahren, weil sie ihn „angeblich“ nicht gesehen hatte. Er kannte das schon. Alle hielten ihn für klein und zogen ihn wegen seiner Größe auf. „Wie groß sind sie eigentlich?“ wurde er später bei der Polizei gefragt, die ihn nicht zum Einstellungstest zulassen wollten, weil er nicht die vorgeschriebene Mindestgröße hatte. „Ich bin zwar nicht groß, aber ich kann schnell weglaufen“, hatte er gesagt, aber diese Fähigkeit wurde dort nicht geschätzt. Wenn ihn heute jemand fragte: „Wie groß sind sie eigentlich?“, verblüffte er gerne manchmal und sagte: „1,95 aber man sieht es mir nicht an, wegen der großen Augen.“ Oft hakten dann alle nach: „Und was steht in Ihrem Paß?“, und er antwortete: „Daß ich eine Viertelstunde schwimmen kann.“ Und wenn dann nachgebohrt wurde: „Ich meine doch nicht im Freischwimmerausweis, sondern im Paß, im Perso.“… „Ach was steht schon im Paß, im Perso“, wiederholte er dann immer. „Der wurde doch vor 40 Jahren ausgestellt. Das gab es noch die D-Mark. Das hat sich doch alles verändert. Man wächst doch mit seinen Aufgaben. Mir passen zum Beispiel meine Klamotten von früher nicht mehr, deswegen bin ich auch froh, daß es Dreiviertel-Hosen gibt.“ Ja, er war größer als er aussah. Gestern hatte ihm noch sein Nachbar gesagt: „Behandeln Sie mich bloß nicht von oben herab.“ Und der war 1,85. Der alte Mann schaute sich um. Er konnte sofort seinen Hund in dem Rudel der anderen Hunde entdecken, weil er immer hochsprang und unverkennbar laut kläffte. Der alte Mann knöpfte seinen Mantel zu und betrachtete die alten Finke-Möbelhallen, die bald abgerissen werden sollten. „Zum Glück lebe ich in einer kleinen Stadt, wo alle so aussehen wie ich“, dachte er. In seiner Stadt mußten Landräte unter 1 Meter 62 groß sein und mit dem Minifahrrad zu Arbeit fahren. In Paderborn zählte der alte Mann zu den Großen. Wenn er neben dem Landrat stand, dachte man immer, er wäre der Landrat. Alles war klein und überschaubar. Da floss der kleinste Fluß Deutschlands durch die Stadt, der Bürgermeister züchtete keine Löwen, sondern Bienen, und den heiligen Liborius, Schutzpatron der Paderborner, flehte man nicht an, wenn es um den Weltfrieden ging, sondern wenn einen Nierensteine plagten, Steine im Schuh piesackten oder der Nachbar die Musik der Rolling Stones nicht leiser drehen wollte. Der alte Mann seufzte zufrieden. Er war froh, so zu sein wie er war. Ein kleiner Mensch ist gut im Geld aufheben. Wenn es regnet, wird er später naß. Keiner will, daß er einem beim Umzug hilft. Das teure Kotelett wirkt in seiner Gegenwart größer und er konnte die Katzenklappe als Notausgang benutzen. „Außerdem habe ich Höhenangst“, sagte der alte Mann. Er streichelte glücklich seinen kleinen Hund. Das ging ganz schnell, klein wie er war.
 
© 2019 Erwin Grosche