Vom Aussterben der Arten

Christopher Kemp – „Die verlorenen Arten“

von Frank Becker

Vom Aussterben der Arten
 
…und aufregenden Funden
in Sammlungen naturkundlicher Museen
 
Erst vor wenigen Tagen wurde die mit Anspannung und großer Sorge erwartete Studie des UN-Weltrats für biologische Vielfalt veröffentlicht, die nun auch nicht zum ersten Mal eine nicht zu überhörende Warnglocke schlug: eine Million der bekannten acht Millionen Tier- und Pflanzenarten auf der Erde sind akut vom Aussterben bedroht. Die Schuld dafür geht von einer einzigen Art aus: dem Menschen. Die Ursache dafür ist im grenzenlosen Raubbau an der Natur, in der hemmungslosen Ausbeutung der natürlichen Ressourcen der Erde, im von Menschen gemachten Klimawandel und im explodierenden Wachstum der Weltbevölkerung zu sehen. Einen einzigen Tag lang beherrschte die alarmierende Studie die Titelseiten der Gazetten und die Nachrichtensendungen in Radio und Fernsehen. Danach wurde wieder die politisch gewollte Decke des Schweigens über das Thema gezogen, das eigentlich täglich und ununterbrochen schrill und lautstark diskutiert werden müßt. Man läßt das Problem einfach liegen, bis keiner mehr darüber redet – so wie man die Freitagsproteste der Jugend ignoriert, bis auch die eingeschlafen sind. Derweil wird fleißig weiter die Erde zerstört. Natürlich sind im Laufe der Erdgeschichte aufgrund von Naturkatastrophen und Klimaveränderungen immer wieder Arten ausgestorben – doch für das, was wir jetzt erleben, ist allein der Mensch verantwortlich. Jeder aufmerksame Beobachter hat längst bemerkt, daß man im urbanen wie im ländlichen Alltag kaum noch Insekten und Singvögel sieht. „Wenn die Biene einmal von der Erde verschwindet, hat der Mensch nur noch vier Jahre zu leben”, wird oft Albert Einstein zitiert. Eine beängstigende Prognose. Wo es früher wimmelte und krabbelte, zwitscherte und quinquilierte ist beklemmende Stille eingekehrt. Der Mensch schafft die Erde ab.
 
Doch jedes Jahr finden und beschreiben Wissenschaftler auch neue bisher unbekannte lebende Arten – wenn auch nicht in einer den täglichen Verlusten nur ähnlichen Zahl. Und sie identifizieren jährlich bis zu 18.000 vermutlich überwiegend ausgestorbene biologische Arten, die in den Sammlungen naturkundlicher Museen lagern, aber bislang noch keinen oder einen falschen Namen haben bzw. hatten. Dazu gehört der winzige, lungenlose Salamander der Gattung Thorius aus Mexiko, der Olinguito, ein Kleinbär aus den Anden, der affenähnliche Pithecia capillamentosa aus Französisch Guyana oder Darwins Kurzflügelkäfer Darwinilus sedarisi aus Argentinien, der 180 Jahre lang unerkannt und falsch zugeordnet in einer Schublade des Naturhistorischen Museums London lag. Jede dieser irgendwann von Forschungsreisenden wie Charles Darwin, Alfred Russel Wallace, Eugène Dubois oder Mary Kingsley gesammelten Arten mußte erst aus den Archiven hervorgeholt und bestimmt werden, damit wir heute von ihrer Existenz erfahren können. Den Wissenschaftlern wird die Arbeit wohl nicht ausgehen. Wie wichtig und zugleich spannend das ist, zeigt das Buch „Die verlorenen Arten“ des Epidemiologen Christopher Kemp: Erst wenn wir wissen, daß es eine Art gibt, können wir überhaupt anfangen, sie zu erforschen, unsere Kenntnisse über die Prozesse ihrer Evolution zu vertiefen und die vielschichtigen Ökosysteme zu verstehen, in denen die Arten vorkommen. Und nur so können wir die Artenvielfalt (vielleicht) schützen und das Artensterben eindämmen. Denn tragischerweise liegt manch ein Exemplar so lange unerkannt in den Archiven, daß seine Art bereits ausgestorben ist, ehe sie erkannt und beschrieben wird. Christopher Kemps abenteuerliche Entdeckungsreise durch die kostbaren Sammlungen mit den Portraits unermüdlicher Forscher ist ein überzeugendes Plädoyer für ihren Erhalt.
 
Christopher Kemp ist Epidemiologe und Autor zahlreicher Veröffentlichungen u.a. in New Scientist, Nature und Nautilus. Sein erstes Buch, Floating Gold, ist eine Naturgeschichte des Ambers, einer unwöhnlichen Form ausgehärteten Pottwaldungs, die nur selten gefunden wird und äußerst wertvoll ist. Aber eigentlich interessiert ihn alles. Kemp lebt mit seiner Frau und seinen drei Söhnen in Grand Rapids, Michigan.
 
Christopher Kemp – „Die verlorenen Arten“
Große Expeditionen in die Sammlungen naturkundlicher Museen
(Lost Species: Great Expeditions in the Collection of Natural History Museums) – aus dem Amerikanischen Englisch von Sebastian Vogel
© 2019 Verlag Antje Kunstmann, 282 Seiten, gebunden, Schutzumschlag, einige Illustrationen, Literaturhinweise, Index – ISBN: 978-3-95614-291-8
25,- €
Weitere Informationen: www.kunstmann.de