Deadline oder Es kommt auf die Sekunde an

„Die Niere“ von Stefan Vögel im Wuppertaler TalTon Theater

von Frank Becker

v.l.: Dennis Ellerbrake, Robin Schmale, Tabea Schiefer, Angela del Vecchio - Foto © Hermann Aldejohann

Deadline
oder
Es kommt auf die Sekunde an
 
Die Niere
Gesellschaftskomödie von Stefan Vögel
 
Regie und Dramaturgie: Benjamin Breutel – Regieassistenz: Sascha Scholz – Bühne: Rüdiger Tepel – Maske: Sandra Kremer – Sounddesign: Bastian Klingelhöller
Besetzung: Angela del Vecchio (Kathrin) – Dennis Ellerbrake (Arnold) – Tabea Schiefer (Diana) – Robin Schmale (Götz)
 
Was täten Sie in einer solchen Situation: Ihre Frau / Ihr Mann kommt mit der niederschmetternden Diagnose vom Arzt, daß ihre/seine Nieren irreversibel geschädigt sind und eine Nierentransplantation unumgänglich ist. Das Warten auf eine Spenderniere kann bis zu sechs Jahre dauern, wobei der Tod möglicherweise schon früher eintritt. Aber halt! Da gibt es ja noch die Lösung der Lebendspende. Sie haben die selbe Blutgruppe wie ihr Partner, könnten also spenden…
Vor diese Situation sehen sich Kathrin (Angela del Vecchio) und Arnold (Dennis Ellerbrake) gestellt, als sie nach 11 Jahren Ehe nach einer Vorsorgeuntersuchung erfahren, daß Kathrins Nieren durch Medikamente zerstört sind. Die Entscheidung müßte nach jedermanns Gefühl in einer Millisekunde erfolgen – und natürlich ein JA sein. Doch eben diese Millisekunde verstreicht, und zwischen dem ebenso erfolgreichen wie nervösen Architekten Arnold, der sein Hochhausprojekt „Diamond Tower“ erfolgreich durchziehen will und der scheinbar gelassen reagierenden Kathrin bricht eine unüberbrückbare Kluft auf. Die wird nicht schmaler, als das zum Essen eingeladene befreundete Ehepaar Diana (Tabea Schiefer) und Götz (Robin Schmale) hinzukommt. Im Gegenteil, durch ihre aus Fachkenntnis warnend konstatierten Risiken einer Lebendspende verunsichert die Apothekerin Diana Arnold zusätzlich, und durch seine spontane Bereitschaft – er hat die selbe Blutgruppe wie Kathrin und Arnold – eine Niere zu spenden, reißt Götz den Graben weiter auf und zusätzlich einen zwischen sich und Arnold sowie zwischen sich und Diana.


v.l.: Tabea Schiefer, Robin Schmale, Angela del Vecchio - Foto © Hermann Aldejohann

In einem raffiniert konstruierten Kammerspiel á quatre und wechselnden Dialogen entbrennt nun ein Wettstreit darum, wer die Niere spenden darf, flankiert von einem Lügengeflecht aus Heimlichkeiten, Affären, Windungen, Wendungen und Demaskierungen. Tabus werden gebrochen, Niederungen der Argumentation aufgesucht, Wut und Enttäuschung herausgelassen. Die Wendungen, glauben Sie mir, es gibt einige davon und heftig, darf und will ich Ihnen hier nicht verraten, es würde sozusagen „den Stöpsel ziehen“ aus diesem dialogreichen, wortgewandten und trotz aller ihm innewohnenden Tragik höchst amüsanten Stück für vier filigran umgesetzte Charaktere. Benjamin Breutel führt in seiner Inszenierung für das Wuppertaler TalTon Theater (TTT) die vier durch den im Grunde einfachen, doch umso wirkungsvolleren Trick von starren Kunststoff-Perücken als Comic-Figuren, als Karikaturen vor, die allen Klischees genügen und jedes Klischee ad absurdum führen (Maske: Sandra Kremer). Mit den Mitteln der aufs Wesentliche reduzierten Mimik und Körpersprache erzielen die vier ebenbürtigen Schauspieler auf der ebenso reduzierten Bühne (Rüdiger Tepel) die höchstmögliche Wirkung: Sie lassen den Zuschauer in jeder Phase des Stücks mit-leiden, schenken durch gelegentliche Informationsvorsprünge heimliche Schadenfreude und lassen durch pointierten Humor da mitlachen, wo es paßt.


Angela del Vecchio, Dennis Ellerbrake - Foto © Hermann Aldejohann

In der Tradition von modernen, tiefgehenden Gesellschaftskomödien wie u.a. „Der Gott des Gemetzels“, „Der Vorname“ oder „Kunst“ führt Stefan Vögel in Die Niere seine Personen als allgemeingültige Exempel mit Charaktereigenschaften vor, wie wir sie aus unserer Umgebung (und von uns selbst?) kennen. Dank der brillanten, punktgenauen sensiblen Umsetzung durch Angela del Vecchio, Dennis Ellerbrake, Tabea Schiefer und Robin Schmale geht das intelligent Stück die Gratwanderung zwischen Komödie und Tragödie traumwandlerisch. Ein unbedingt lohnender Theaterabend, von dem man nicht nur packende Dramatik, klugen Humor, die Erkenntnis menschlicher Schwäche und einige Überraschungen mitnehmen kann, sondern auch einen Organspenderausweis – denn solche liegen im Foyer mit einer Aufklärungsschrift aus. Eine Empfehlung der Musenblätter.
 
Weitere Informationen:  www.taltontheater.de