Zuckerfliegen

von Erwin Grosche

Foto © w.r.wagner / pixelio.de

Zuckerfliegen
 
Zuckerfliegen sind selten geworden. Seitdem die Menschen immer gesünder leben, hat die Zuckerfliege es nicht leicht, einen Platz unter uns zu finden. Während ich einmal auf die Rechnung für ein kleines Frühstück wartete, entdeckte ich zwei Zuckerfliegen in meinem Zuckerstreuer. Eine dicke und eine zarte Zuckerfliege trieben sich im Glas herum und ließen den Tag einen guten Tag sein. Dachten sie, man sehe sie nicht? Zuckerfliegen sind unsere Freunde und sehr vertrauensselig. Ich hielt den Streuer gegen die Sonne und schaute entzückt den beiden Zuckerfliegen beim Zuckerfliegen zu. Konnte man durch das Streuröhrchen in das Glas gelangen und bei einem Zuckerbad den Sinn des Fliegenlebens entdecken? Wie kamen sie wieder heraus? Mußten sie nur darauf achten, daß sie sich beim Herausstreuen des Zuckers mittreiben lassen und so einen Weg durch den Streuhals finden? Paßt nur auf, kleine Zuckerfliegen, daß ihr dabei nicht in irgendeiner heißen Kaffeetasse landet. „Der Zucker macht uns alle verrückt und wir tun oft mehr dafür, als zu verantworten ist“, dachte ich. Ich fragte den jungen Herrn Weyher nach einer Erklärung für das Fliegenwunder, zumal ich bemerkt hatte, daß er begonnen hatte, alle Zuckerstreueröffnungen mit einem Korken zu versiegeln. „Es gibt da keine Klarheit“, vertraute er mir an. „Sie kommen und gehen, nichts kann sie aufhalten. Glas ist für sie kein Hindernis.“ Ich war erschrocken, wie wenig wir vom Leben wußten und trotzdem oft so taten, als hätten wir alles im Griff. Stürzen wir uns nicht auch auf jeden Funken Hoffnung und sind dann ganz überrascht, wenn wir abrupt aus unseren Träumen gerissen werden?
 

© Erwin Grosche