Wie die Welt von Innen ihre Form erhält

Das tiefere Geheimnis

von Ernst Peter Fischer

Ernst Peter Fischer
Wie die Welt von innen ihre Form erhält

Von Ernst Peter Fischer
 

Das tiefere Geheimnis
 
Es ist höchst verständlich, wenn solche Auskünfte beim ersten Hören oder Lesen wenig befriedigend klingen und Stirnrunzeln hervorrufen, aber dieser Fall läßt erkennen und verstehen, daß die Physik ihre Dinge oder Objekte nicht dadurch erklärt, indem sie deren Geheimnis lüftet, sondern im Gegenteil dadurch, daß sie deren Geheimnis vertieft, wie Carl Friedrich von Weizsäcker bereits in den 1940er Jahren eindringlich festgehalten hat, als er „Das Weltbild der Physik“ beschrieb, daß sich damals bis zur Unkenntlichkeit gewandelt hatte. Das Versinken im Geheimnisvollen findet sich schon bei alltäglichen Phänomenen, denn wer zum Beispiel verstehen will, wie und warum Gegenstände zu Boden fallen, kann natürlich sagen, daß dies durch die Schwerkraft zustande kommt, aber er muß sich natürlich darüber im Klaren sein, daß damit noch niemand weiß, was diese Gravitation verursacht und wie allein durch eine Masse – die der Erde im menschlichen Dasein – eine Kraft hervorgezaubert wird. Zum Glück kennt man die Antwort, seit Albert Einstein vor gut 100 Jahren eine Allgemeine Relativitätstheorie aufgestellt hat. Sie lautet, daß es deshalb eine Schwerkraft gibt, weil die Materie in der Lage ist, die Raumzeit zu krümmen, die dem Universum Platz für sein Dasein bietet, wobei diese Auskunft verständlicherweise nur dazu führt, daß zwar der Experte jubelt und jetzt alles ausrechnen kann, der Laie aber zugleich wie ein Ochs vor der frisch gestrichenen Stalltür verharrt und ihm bestenfalls erneut Goethe einfällt: „Da steh´ ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor.“
 
Doch der medial hartnäckig geleugnete Tatbestand, daß die Geheimnisse der Welt nur zunehmen, wenn man sie aufzuheben und die Dinge mit wissenschaftlicher Hilfe zu erklären versucht, liefert zwei wunderbare Gründe, aus denen Menschen jubeln können. Den ersten Grund hat Einstein genannt, als er einmal feststellte, das Schönste, was ein Mensch erleben könne, sei das Gefühl für das Geheimnisvolle. Mit ihm kann das Staunen beginnen und sich die kreative Ader von Menschen öffnen, und wer sich in der Wissenschaft versucht, kann sich demnach von Geheimnis zu Geheimnis vorarbeiten und dabei ein schönes Gefühl durch das nächste ablösen lassen. Und auf den zweiten Grund kommt man, wenn man sich die unvermeidliche und knifflige Frage stellt, warum man sich überhaupt noch die Mühe macht, die Geheimnisse der Natur zu erkunden, wenn man dabei doch nur immer tiefer in das Mysteriöse hineingerät und fürchten muß, am Ende jeden Durchblick zu verlieren und niemanden zu haben, den man um Hilfe bitten kann und der einen wieder zum Licht führt.
 
Dieses Paradox hebt sich auf wie der Schleier zu Sais, wenn man nämlich fragt, was speziell der- oder diejenige eigentlich sucht, der oder die in das Innere der Atome oder der Welt vordringen will, und was darüber hinaus und allgemein Menschen suchen, die nach Wissen streben. Es hilft bei der Antwort ungemein, wenn man sich daran erinnert, wo Werner Heisenberg am Ende seiner Expedition in das Innere der Atome angekommen ist, nämlich bei sich selbst, und da wollen vermutlich letzten Endes alle Menschen hin, wobei sie merken können, daß sie an diesem Ziel angekommen sind, wenn sie Glück empfinden und sich zufrieden fühlen.
 
Was Heisenberg persönlich angeht, so hat sich das junge Genie wie der griechische Jüngling in der romantischen Poesie selbst gefunden. Heisenberg ist am Ende seines Suchens bei sich, er hat sein Zuhause, sein Heim erreicht, wobei diese beim ersten Lesen heimelig klingende Formulierung mit dem „heim“ operiert, das aber mitten in dem Geheimnis steckt, diesem schönen Wort, das Martin Luther der deutschen Sprache geschenkt und mit dem er das lateinische Mysterium übersetzt hat. Das tiefste Geheimnis ist das eigene Ich. Ein Geheimnis zu haben, bedeutet, bei sich zu sein, und so strebt alles Bemühen um das Wissen, deshalb drängt alle Wissenschaft nach dem Innen, wie eingangs gesagt wurde. Es war Heisenberg auf Helgoland, der in den einsamen Stunden der Nacht die Physik mutig ins Innere der Welt führen und am Ende seiner Reise bei sich ankommen und zu sich finden konnte.
 
Kurz vor seinem Tod im Jahre 1976 hat sich Heisenberg „Gedanken zur ´Reise der Kunst ins Innere´“ gemacht, also zu einem Buch des Literaturwissenschaftlers Erich Heller mit diesem Titel geäußert. Heisenberg fragt, ob man das Ziel genauer bezeichnen kann, „als es durch die Worte ´das Innere´ oder ´die Abstraktion´ geschieht“, wobei der zweite Begriff für die mathematische Sprache gebraucht worden ist, in der Physiker sich über das Innere der Atome unterhalten. Heisenberg ist klar, daß sich der menschliche Geist „mit aller Kraft gegen die Erkenntnis [wehrt], daß der Weg zum Verständnis aus der Anschaulichkeit“ herausführt, wie es bei den Atomen passiert ist und passieren mußte. Der menschliche Geist wehrt sich, selbst wenn er weiß, daß der von ihm eingeschlagene Weg „nach einer endlichen Zahl von Schritten zum Ziel führt“, wie es ja im Laufe der Geschichte eingetreten ist. Am Endpunkt der Reise der Wissenschaft nach Innen findet der Forscher „nicht mehr Leben und nicht mehr Welt“, wie Heisenberg sich ausdrückt, dafür aber „Verständnis und Klarheit im Hinblick auf die Ideen, nach denen die Welt konstruiert ist“ und errichtet wird. Mit anderen Worten, wenn sich der Nebel verzieht oder der Schleier hebt, sieht man, wie die Welt von innen ihre Form erhält, und kann sogar noch weitergehen. Im Sinne und mit den Worten der romantischen Poesie könnte man nämlich sagen, daß es innen gar kein stabil geschaffenes „Seyn“ und stattdessen nur ein schöpferisches (kreatives, bildendes) Werden gibt, was aber bedeutet, daß das Suchen von Menschen stets weiter geht und man am Ende einer jeden Wanderschaft auf einen neuen Anfang durch eigenes Tun hoffen und ihn dann auch wagen kann.
 
So drückt Heisenberg am Ende seines Lebens seine Grundhaltung und Hoffnung aus, und ohne daß er das Wort „romantisch“ benutzt, scheint in Heisenbergs Essay die Quintessenz der so bezeichneten Welterfassung unübersehbar auf. Gemeint sind „der Wille und der Mensch als eine Form der Tätigkeit“, wie es der Ideenhistoriker Isaiah Berlin ausgedrückt hat, als er „Die Wurzeln der Romantik“ freigelegt hat, die sich im Atom als Energie zeigt und die möglichen Formen des Daseins schafft. Aus seinem Willen erwächst der Mensch „als etwas, das unbeschreiblich ist, weil es in einem fort schöpferisch tätig ist“, wobei dieser Gedanke zum „Kern der romantischen Bewegung“ führt, den Berlin prägnant so formuliert, „es gibt kein Ich, es gibt nur Bewegung“. Ich bin nicht, ich werde nur, wie man sagen könnte und was für die Physik bedeutet, es gibt keine Atome und nur Prozesse, die zu ihnen hin- und über sie hinausführen. Die Genetik weiß seit den 1970er Jahren, daß sie genauso über ihre Objekte reden muß, denen in Kürze die Aufmerksamkeit gilt. Auch Gene sind nicht, Gene werden nur, was konkret meint, daß sie erst im Laufe des Lebens einer Zelle die Form annehmen oder zugewiesen bekommen, die der erwachsene Körper nutzt und an der er weiter arbeitet, wie die jüngsten Fortschritte der Epigenetik zeigen. Diese dynamische Fassung der Erbanlagen bereitet manchen Zeitgenossen zwar noch große Mühe, vor allem den Berichterstattern in den Medien, die lieber feste Gene für feste Eigenschaften vorstellen – Gene für Krankheiten sind besonders beliebt – und übersehen, was das gute alte Wort Erbanlage deutete, nämlich etwas, das im Laufe des Lebens so angelegt wird, daß sich seine Vererbung auszahlt.
 
 
© 2018 Ernst Peter Fischer