Wie die Welt von Innen ihre Form erhält

Vom Atomkern zum Zellkern (1)

von Ernst Peter Fischer

Ernst Peter Fischer
Wie die Welt von innen ihre Form erhält

Von Ernst Peter Fischer
 

Vom Atomkern zum Zellkern (1)
 
Weiter oben war allgemein von einem neuen Anfang die Rede, und ihn wagten konkret die Physiker, die in den Jahren des Zweiten Weltkriegs erleben mußten, daß mit den Atomen nicht nur verstanden werden konnte, wie sich der Auftrag „Es werde Licht!“ physikalisch umsetzen ließ, sondern die auch zusehen mußten, als das Licht vom Himmel „Heller als Tausend Sonnen“ strahlte, wie es in einem indischen Epos heißt und wie es im Titel des berühmten Buches übernommen wurde, in dem Robert Jungk die Geschichte der Atombombe beschrieben hat, die 1945 von den Amerikanern über Japan abgeworfen worden ist. Physikalisch geht es dabei immer um die Energie, die aus dem Inneren der Atome kommt und jetzt die Menschen von außen bedroht. Es wird niemanden überraschen, wenn er erfährt, daß diese Energie zwar berechenbar ist, dabei aber nicht nur geheimnisvoll bleibt, sondern immer geheimnisvoller wird. Wie soll man sich denn vorstellen, was sich ereignet, wenn sich die Elektronen in einem Atom umschichten und dabei etwas Energie erübrigen, die dann verwandelt als Licht seine Reise durch die Welt beginnt. Klar ist, daß die Lichtenergie aus den Atomen kommt, klar ist auch, daß sie vorher dort nicht in dieser Form anzutreffen war. Wie passiert genau, wenn sich Atomenergie in Strahlung umwandelt, die zum Beispiel auf die Haut eines Menschen treffen und sie mit Wärmeenergie versorgen kann? Und wie kann sich im Inneren von Atomen dank einer von dort verschwindenden Masse die Kernenergie bilden, die dann heller als Tausend Sonnen strahlt und dabei die Welt zerstört?
 
Man soll bitte nicht denken, daß hier kein Geheimnis vorliegt, und sich lieber damit abfinden, daß es wahrscheinlich kein größeres Geheimnis als die Energie gibt, die vieles zerstören kann und selbst dabei unzerstörbar bleibt. Die Energie muß das Universum schon erfüllt haben, als jemand auf die Idee kam, in die Dunkelheit hinein „Es werde Licht!“ zu rufen, um auf diese Weise die Welt anders als mit der Finsternis auszufüllen, die der Heiligen Schrift zufolge am Anfang über der Urflut lag, die man sich dann als reine Energie, als sie allein, vorstellen kann.
 
Was die Energie in einem konkreten Fall angeht, so fällt einem Leser der Autobiographie von Heisenberg auf, daß er bei seinem nächtlichen Bemühen um das Geheimnis der Atome fest auf die Eigenschaft der Energie vertraute, die darin besteht, konstant und unzerstörbar zu sein. Heisenberg jubelte, als nach vielen Rechnungen klar zu sehen ist, daß sich der Energiesatz in allen Einzelheiten bewährt hat und seine Gültigkeit behält, wobei an dieser Stelle nicht nur gratuliert, sondern endlich auch gefragt wird, was Energie „ihrem Wesen nach eigentlich“ ist und ob sich mit ihrer Hilfe nicht noch etwas über das Innen zeigen kann, das die Menschen fasziniert.
 
Wenn man zu den Anfängen der Energie zurückgeht, landet man bei dem Wort selbst, das der Philosoph Aristoteles eingeführt hat, natürlich als „energéia“ auf Griechisch. Er meinte damit eine Wirkkraft, wie die Lexika verraten, „durch die Mögliches in Seiendes übergeht“, wobei Goethe seinen Faust von „Wirkenskraft“ sprechen läßt. Was beim ersten Lesen harmlos klingt, muß man beim Wiederlesen als wunderbaren Satz feiern, in dem die Voraussetzung steckt, daß es neben dem Sein – was immer das ist – und dem Nichtsein – was immer das ist – ein Drittes gibt, nämlich das Möglichsein, das man vornehm auch als Potenzial oder das Potenzielle bezeichnen kann. Energie wirkt, wenn etwas verwandelt werden kann, und zwar nicht nur sie selbst, sondern auch das Mögliche in das Wirkliche, und damit läßt sich zusammen mit Heisenbergs Erlebnis sagen, was er sah, als er den Schleier von den Atomen zog. Er sah ihre Energie und wie sie zum Licht werden kann, und er sah, daß im Inneren jeder Wirklichkeit das Potenzial steckt, sie hervorzubringen. Was die Welt im Innersten bereithält, sind die Möglichkeiten ihrer Existenz, zu der Menschen wie er beitragen, weil sie „in einem fort schöpferisch tätig sind“. Die Möglichkeiten enthalten die Geheimnisse der Welt und geben den Menschen – vielleicht auch an dieser Stelle – das schöne Gefühl des Staunens, von dem Einstein gesprochen hat und mit der seiner Ansicht nach die Kreativität des Menschen beginnt.   
 
Natürlich gehören auch die physikalisch-technisch umsetzbaren Möglichkeiten zu dem Potenzial der Dinge und der Welt, wie sie 1945 am Ende eines Krieges durch die Alliierten genutzt wurden. Als die Atombomben funktionierten und Städte verwüsteten und ihre Bewohner töteten oder verstrahlten, sahen sich viele Physiker nach neuen Arbeitsgebieten um, und sie wurden fündig in der Genetik, die im Verlauf des 20. Jahrhunderts ihre eigenen – und weniger explosiven – Atome namens Gene gefunden hatte und sich in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer Molekularbiologie wandelte. Ihre Akteure konnten nach und nach Wege in das Innere des Lebens, genauer in das Innere von Zellen finden, und sie stießen dort im Zellkern auf die Erbanlagen, die aus diesem Innen heraus den Menschen bauen, der sich zuletzt außen in der Welt zeigt. Es wird nicht unbemerkt bleiben, daß in dem schönen alten Wort von den Erbanlagen die Möglichkeiten stecken, die damit auf ihre molekulare Weise im Inneren des Lebens zu finden sind, nachdem ihre energetische Form im Inneren der Atome ihr Wirkungsfeld bereitet.
 
 
 
© 2018 Ernst Peter Fischer