Gottfried Keller (1819-1890)

Lyriker, Romancier und Politiker

von Frank Becker

Gottfried Keller - Karl Stauffer-Bern pinx. 
Gottfried Keller (1819-1890)
 
Lyriker, Romancier und Politiker

Am 19. Juli 1819, vor 200 Jahren, gebar in Zürich Elisabeth Keller, die Ehefrau des Drechslermeisters Rudolf Keller, einen Knaben, der den Namen Gottfried erhielt. Er war eins von sieben Kindern der Eheleute, doch nur er und seine Schwester Regula starben nicht im Kindesalter. Daß die beiden später ein enges Verhältnis verband, das der Not geschuldet letztlich zum Zusammenleben führte, liegt auf der Hand.
Nach dem Tod des Vaters, der unseligen Wiederverheiratung der Mutter, der ein viele Jahre dauerndes schmerzliches Scheidungsverfahren folgte und vielen Schulwechseln wurde Keller 1834 der Schule verwiesen. Die Mutter gab seinem Wunsch Kunstmaler zu werden nach und ermöglichte ihm eine Ausbildung, die er allerdings auch nicht recht zu Ende brachte. Redakteurstätigkeiten, auch in Deutschland (Berlin, Heidelberg) folgten, bevor Keller seine Bestimmung in der Literatur, zunächst der Poesie, und den Weg zurück in die Heimat fand. Gottfried Keller avancierte, von unermüdlichem Fleiß , überbordender Phantasie und grandiosem Talent getrieben zum begehrten Lyriker, Romancier und Novellisten. Die „Züricher Novellen“, „Der grüne Heinrich“, „Die Leute von Seldwyla“, „Martin Salander“, „Das Sinngedicht“, „Sieben Legenden“ gehören zu den Werken, die den ersten Staatsschreiber des Kantons Zürich schließlich zum Schweizer Nationaldichter werden ließen.
 
Kein Glück konnte er allerdings in der Liebe entwickeln, er blieb immer der tragisch Abgelehnte, Verschmähte, Verlassene. Die Chronik seines Lebens zeichnet auf: 1838 Tod der angeblichen Jugendgeliebten Henriette Keller; 1847 Bekanntschaft mit der Winterthurerin Luise Rieter, der Keller im Oktober brieflich seine - unerwiderte - Liebe erklärt; 1849 Zuneigung zu Johanna Kapp, die jedoch Ludwig Feuerbach liebt; 1866 Verlobung mit Luise Scheidegger, die sich am 13. Juli das Leben nimmt; 1873 erfolgloser Heiratsantrag an Lina Weißert.
Nicht vergessen darf man beim Betrachten des Gesamtwerks Kellers seine reiche Briefkultur, die ihn mit u.a. Ferdinand Freiligrath, Paul Heyse, Hermann Hettner, Wilhelm Petersen, Theodor Storm, Marie und Adolf Exner und Conrad Ferdinand Meyer verband. Hieraus zog Keller Kraft, Inspiration und Freundschaft.
1861 bis 1864 lebte er mit Mutter, die ihr Haus verkauft hatte, um Gottfried seine Pläne zu ermöglichen und der Schwester zusammen, nach dem Tod der Mutter 1864 blieben die Geschwister beieinander, bis Regula, die ihm nach dem Tod der Mutter allein den Haushalt geführt hatte, 1888 starb.
 
Nach sechsmonatiger Krankheit starb der Gottfried Keller am 15. Juli 1890 als Hagestolz in seinem Geburtsort Zürich. Adolf Frey erzählt von seinem letzten Besuch bei Keller am Tag vor dessen Tod: „Des Todes Hand lag auf ihm, über das blasse Gesicht mit den meist geschlossenen Augen war ein unendlicher Friede gebreitet. Er sprach noch von diesem und jenem und flocht auch wohl noch eine kleine Schalkheit ein; aber meistens war er eine Beute der schlummersüchtigen Müdigkeit.“
Jakob Baechtold berichtet vom Leichenbegängnis: „Ein Leichenbegängnis wie das Gottfried Kellers am Vorabend seines einundsiebzigsten Geburtstages hatte Zürich noch nie gesehen. Die Stadt selbst hatte die Bestattungsfeier angeordnet. Hinter dem mit kostbaren Kränzen überdeckten Sarge schritt das ganze Schweizerland. Vertreter des Bundesrates, die gesamte Zürcher Regierung, Abordnungen des Kantons- und des Stadtrates, die Lehrkörper beider Hochschulen, Vertreter sämtlicher größeren Vereine der Stadt und der akademischen Jugend Zürichs und der übrigen Schweiz, mitten in einem Wald umflorter Banner. (…) Unter den Klängen von Chopins Trauermarsch setzte sich der Zug in Bewegung, mitten durch die Massen des Volkes, das lautlos, entblößten Hauptes an den Rändern der Straßen sich drängte (…).“

Davon, daß der ungemein populäre Lyriker, Romancier und Politiker, der oft unglücklich Liebende in seinen besseren Jahren ein durchaus angenehmes und sinnenfrohes Leben geführt hat, zeugen nicht nur Erzählungen seiner Zeitgenossen und seine eigenen köstlich selbstironischen Briefe. Zwei davon möchten wir Ihnen zur Erinnerung an den Autor vorlegen:
 
Gottfried Keller an Marie Exner
(Zürich, 16. Dezember 1872):
 
„Höflichen und herzlichen Dank für die zwei Bilder, die mir Herr Dilthey gestern abend gab. Bis zu diesem Augenblick, das heißt seit Monaten, hatte ich in Zucht und Ehre gelebt.
Gestern tranken wir zwei nun folgendes: 
8 Glas Bier2 Schoppen Wein
2 Flaschen Wein2 Gläser Grog
2 Wiener Schnitzel (Dilthey)
1 Blumenkohl (idem)
1 Hasenbraten (ich)2 Brot (beide)
1 Kartoffelsalat (ich)
1 Käs (Dilthey)
1 Butter (idem)
1 Brot (idem)

macht 24 Einheiten, die wir zusammen verschlangen. Als Dilthey meinen
schönen Hasenbraten sah, wollte er auch welchen haben, es war aber keiner
mehr da.  Ich bot ihm den meinigen an gegen Abtretung der Wiener Schnitzel.
Da wurde er mißtrauisch und behielt sie.
Heut´ hab ich etwas Katzenjammer; als ich um neun Uhr aufstand und die Photographien besah, machte ich ein zwinkerndes Gesicht, wie eine alte Eule, die an einem hellen Morgen aufs Meer hinausschaut. (...)
Dilthey ließ ich gestern nachts beim Heimgehen immer drei Schritte voraus marschieren, damit er mir nichts Böses nachsagen könne bezüglich meines Wandels; tut er es dennoch, so glauben Sie es nicht!
Nun wünsche ich Ihnen und Ihren Herrn Brüdern, die ich grüße, dankbarlichst ein glückliches und frohes Weihnachts- und Neujahrswesen und verbleibe Ihr ergebener
G.Keller“

Gottfried Keller an Karl Dilthey
(Zürich, 13. Januar 1873)

„Als ich den Exnerschen für das bewußte Freßkörbchen dankte, hatte ich aus Dummheit geschrieben, ich hätte es sofort ganz ausgefressen. Diese Renommage hat mir heute beiligende Episten eingetragen, aus welchen Sie ersehen, daß Sie nächstens einmal zu mir kommen müssen. Gott sei Dank, ewiglich, daß ich mich wenigstens halb reinwaschen kann. Ich denke mir die Sache so, daß wir uns mittels Einnehmens des kalten Imbisses und etwa zwei Flaschen Weins einen schönen Bierdurst anschaffen und alsdann in den „Gambrinus“ oder so wohin gehen, um denselben zu löschen. An einer späteren Bewirtung von mehreren Köpfen studiere ich auch herum...“
 
Die Personen:
Karl Dilthey (1839-1907) war 1870-1877 Professor für Archäologie an der Universität Zürich.
Marie Exner, verh. von Frisch (1844-1925), lebte damals bei ihrem Bruder Adolf Exner in Zürich
 
Seinem Geburtsmonat, der auch sein Sterbemonat werden sollte, hat Gottfried Keller dieses Gedicht zugeeignet:
 
Zur Erntezeit
 
1.
 
Das ist die üppige Sommerzeit,
wo alles so schweigend blüht und glüht,
des Juli stolzierende Herrlichkeit
langsam das schimmernde Land durchzieht.
 
Ich hör' ein heimliches Dröhnen gehn
fern in der Gebirge dämmerndem Blau,
die Schnitter so stumm an der Arbeit stehn,
sie schneiden die Sorge auf brennender Au.
 
sie sehnen sich nach Gewitternacht,
nach Sturm und Regen und Donnerschlag,
nach einer wogenden Freiheitsschlacht
und einem entscheidenden Völkertag!

2.
 
Mir ist, ich trag' ein grünes Kleid
von Sammet und die weiche Hand
von einer schweigsam holden Maid
strich' es mit ordnendem Verstand.
 
Wie sie so freundlich sich bemüht,
duld' ich die leichte Unruh' gern,
indes sie mir ins Auge sieht
mit ihres Auges blauem Stern.
 
So deckt der weiche Buchenschlag
gleich einem grünen Sammtgewand,
so weit mein Auge reichen mag,
das hügelübergoßne Land.
 
Und sachte streicht darüber hin
mit linder Hand ein leiser West,
der Himmel hoch mit stillem Glühn
sein blaues Aug' drauf ruhen läßt.
 
Uns beiden ist, dem Land und mir,
so innerlich, von Grund aus, wohl –
doch schau, was geht im Feldweg hier,
den Blick so scheu, die Wange hohl?
 
Ein Heimatloser sputet sich
waldeinwärts durch den grünen Plan –
das Menschenelend krabbelt mich
wie eine schwarze Erdspinn' an!
 
-.-