Das Wort zum Sonntag

von Hanns Dieter Hüsch

Foto © Paul Maaßen
Das Wort zum Sonntag
 
Wenn ich mir jetzt, meine lieben Zuhörer, eine Brille aufsetze und Sie mir freundlichst erlauben, in Ihre Stube hinein zu Ihnen zu sprechen, in Ihren eigenen Bereich hineinzuschauen, so hat das mit der Brille ja heute eine eigene Bewandtnis.
Vor einigen Tagen sah ich, wie ein netter junger Mann nach Anbruch der Dunkelheit sich eine alles noch mehr verdunkelnde Sonnenbrille aufsetzte. Ein andermal hörte ich, wie jemand zu seinem Nachbarn sagte: Eine rosarote Brille, und alles sieht gleich ganz anders aus.
Da habe ich mich gefragt: Was sieht denn gleich ganz anders aus?
Und wie oft hören wir doch heute, ich habe nicht den richtigen Überblick, ich sehe da nicht mehr klar, ich schaue da nicht mehr hindurch. Sollten da vielleicht zuviel Sonnenbrillen und zuviel rosarote Brillen mit im Spiel gewesen sein? Wer immer nur Buttercremetorte ißt, weiß eines Tages gar nicht mehr, wie Buttercremetorte schmeckt. Und wer sich eine Sonnenbrille oder eine rosarote Brille aufsetzt, der muß nicht meinen, daß Gott unseren wahren Alltag nicht sieht. ER ist unser Optiker. ER braucht keinen Kneifer und keinen Aussichtsturm. ER ist weitsichtig und kurzsichtíg zugleich. ER sieht uns an und durch uns hindurch. Durch und durch. Für und für.
Lassen Sie mich schließen mit einem Wort, das uns die Augen öffnen helfen will, mit einem Wort des böhmischen Wanderpredigers Heinrich Ignaz Mützenbecher, der da sagt: „Möge, der Du sein werdest, dann siehst Du, was Du sein dürftestl“.
Guten Abend.


© Chris Rasche Hüsch
Veröffentlichung aus „Das Schwere leicht gesagt" in den Musenblättern mit freundlicher Genehmigung
Das Foto stellte freundlicherweise Paul Maaßen zur Verfügung.