Tastengott

Chilly Gonzales in der Historischen Stadthalle auf dem Johannesberg

von Johannes Vesper

Chilly Gonzales - Stella Le Page - Foto © Peter Wieler

Tastengott
 
Chilly Gonzales in der Historischen Stadthalle auf dem Johannesberg
 
Von Johannes Vesper
 
In Wuppertal kam er im schwarzen Morgenmantel und Pantoffeln auf die Bühne. Schon als Dreijähriger erhielt er vom Großvater musikalische Impulse. Der Pianist Jason Beck wurde in Kanada geboren, erhielt dort ab dem 10. Lebensjahr Klavierunterricht und studierte später Jazzpiano und Komposition. Er schätzt musikalischen Dilettantismus, hält seinen Live Auftritt für das eigentlich künstlerische Erlebnis, veranstaltet musikalische Workshops im Rahmen seines „Gonzservatoriums“, komponiert seine eigene Musik und bezeichnet sich inzwischen selbst als Entertainer, was er mit Leib und Seele auch ist. Dafür änderte er vor Jahren seinen Namen, nannte sich Chilly Gonzales, wurde zur Kunst- und Kultfigur, entdeckte Rap, Hip-Hop und Rock für sich, verdiente sein Geld als Barpianist, gründete eine Band mit dem Namen „Shit“ und hält sich für ein Genie. Berühmt wurde er mit seinen Alben Piano Solo 1-3, und er hält den Rekord im solistischen Dauerspiel. 2009 kam er mit seinem Konzert von 27stündiger Dauer ins Guinness-Buch der Rekorde. Inzwischen lebt der Kanadier in Köln und wird zu den Berliner Festwochen wie in die Elbphilharmonie eingeladen. Im großen Saal der Historischen Stadthalle Wuppertal jubelte ihm sein Publikum schon beim ersten Auftritt zu, als er darauf hinwies, daß er zum ersten Male hier, aber schon zum dritten  Mal beim Klavierfestival Ruhr konzertiere. Mit einigen einfachen, kleinen, gefälligen Klavierstücken , die im ¾ Takt stilistisch an Schubertsche Tänze oder auch an romantische Lieder ohne Worte, im 4/4 Takt eher an melancholischen Pop erinnerten, begann der Abend. Nach dieser Einleitung trank er einen Schluck aus der Flasche bevor er fortfuhr. Stets harmonisch, gewann seine Klaviermusik inzwischen schärfere Konturen und erinnerte gelegentlich mit Akkordkaskaden auch an Rachmaninoff.
 
Bald reichten den flinken Fingern die Flügeltastatur nicht mehr aus. Sie flogen zwischendurch zum Vergnügen der Zuschauer virtuos weit durch die Luft. Schließlich gesellte sich die Cellistin Stella Le Page zu ihm auf die Bühne, begleitete den Unterhaltungsmaestro, nahm seine musikalischen Themen und Motive auf und konnte sich dank elektronischer Verstärkung ihres Instruments gegenüber dem ebenfalls verstärkten Flügel klanglich auch behaupten. Beim Pop Song für Cello und Klavier trug das Cello ausdrucksstark die getragene Melodie vor und Chilly bedauerte anschließend, daß er mit seinem trockenen Klavier ohne jedes Vibrato emotional gegen das Cello keine Chance habe. Zur Verstärkung der emotionalen Stimmung wurden Orgel und Chorempore sicherheitshalber zusätzlich in farbiges Licht getaucht. Chilly, der seine Funktion als Entertainer stets sehr ernst nimmt und seinem Publikum wirklich immer etwas bieten will, forderte dieses aber auch, übte mit ihm rhythmisches Fingerschnipsen und Stampfen mit den Füßen, bewies hier pädagogischen Fähigkeiten, wie er sie in seinen Workshops zur Musik benötigt. Als Ergebnis dieser Aktion konnte das Publikum die Rhythmusgruppe bei den folgenden Raps darstellen. So etwas ist tatsächlich selten zu hören: Klaviertrios mit Rap, Rhythmusgruppe (Publikum) und Violoncello. Dabei übertraf die sprachliche Virtuosität durchaus die der Instrumente. Vom Charakter her jazzig, erinnerten die schwer verständlichen Wortfetzen an Texte Mozarts, in dessen Briefen sich ähnliche Wortspielereien finden, und der daran sicher seinen Spaß gehabt hätte.


Chilly Gonzales - Foto © Peter Wieler

Dann wurde als Gast Joseph Moog, der als ernsthafter Pianist das diesjährige Abschlußkonzert am Folgeabend in Mülheim bestreiten sollte, gebeten, ein Stück des „Komponisten im Schlafrock“ zu spielen. Es handelt sich um die Verfremdung des 1. Präludiums C-Dur aus dem Wohltemperierten Klavier. Anschließend begleitete Moog prima vista zusammen mit der Cellistin den Künstler bei dessen Solo auf einer Blasharmonika. Der Virtuose an Klavier und Harmonika erläuterte noch Bachs Persönlichkeit und seine Kompositionstricks, tanzte diesmal zwar nicht mit seinen Pantoffeln über die Tastatur, begeisterte aber auch in der Kurzfassung seines Konzertes an diesem Abend mit seinem Humor und seiner extravaganten Selbstinszenierung seine Fans, die aus ganz Nordrhein-Westfalen gekommen waren. Nach einem ersten Abschied brauste gewaltiger Applaus auf und trieb Chilly an die große Stadthallenorgel. Die Arme zum Himmel reckend, improvisierte er flink auf verschiedenen Manualen über einem auch ohne elektronische Verstärkung gewaltigen Orgelpunkt, zitierte u.a. die Bachsche d-Moll Tokkata und alle waren erneut außer sich vor Begeisterung. Es kam zum Höhepunkt des Abends: John Cages 4 Min 33 sec ließ sich Chilly Gonzales nicht entgehen. Einzelne Zuhörer konnten die wunderbare, anhaltende Stille dieser Komposition, in der jede Sekunde auskomponiert wurde, nicht ertragen. So hörte man, durchaus störend, vereinzelt zaghaftes Fingerschnipseln, Vogelzwitschern oder Kuckuck aus der Tiefe des Konzertsaals. Zuletzt nach zweimaligem gewaltigem Klavierrock, den Chilly unter Einsatz aller seiner Kräfte aus dem Klavier zauberte, war dann endgültig Schluß: Tosender Applaus in der völlig ausverkauften Stadthalle für alle Beteiligten und Blumen vom Sponsor zu guter Letzt für den Tasten- und Rampengott, für den glänzenden und humorvollen Klavierentertainer, der auf der Bühne lebt und mit zahlreichen vor allem auch außermusikalischen Ideen seine Fans und sein amüsiertes Publikum alles andere als langweilt.