Ein geniales Mysterium der Comic-Geschichte

George Herrimans „Krazy Kat“. Die kompletten Sonntagsseiten in Farbe 1935–1944

von Frank Becker


Rosebud
 
Krazy Kat
Ein geniales Mysterium der Comic-Geschichte
 
Pat Sullivans Felix the Cat, Disneys Kater Karlo (der übrigens ursprünglich in die Maus Minnie verliebt war), ähnlich Kater Tom von William Hanna und Joseph Barbera mit seiner Haßliebe zur Maus Jerry, Kater Sylvester aus den Looney Tunes, Robert Crumbs anarchischer Kater Fritz the Cat, Gilbert Sheltons entspannter Fat Freddies Cat, Patrick McDonalds Kater Mooch in Mutts, Simon´s Cat von Simon Tofield, George Gatleys Heatchcliff und gottstehmirbei Garfield von Jim Davies: Nur einige der Katzen, die in Comic- und Zeichentrick Serienreife erhielten und weltweit bekannt, ja berühmt wurden,
 
Einzigartig
 
Niemals aber hat es eine Comic-Katze trotz vergleichbar geringer Verbreitung zu solch differenziertem Ruhm und nachhaltiger, auch philosophischer Rezeption gebracht wie George Herrimans Krazy Kat. Von 1913 bis 1944 (ab 1935 in Farbe) erschien die sonntägliche Comic-Beilage in den Zeitungen des amerikanischen Verlegers William Randolph Hearst, der selber in diese Comic-Strips so vernarrt war, daß er George Herriman (1880-1944) freie Hand bei der Gestaltung gab. Von insgesamt fast 1.400 Sonntagsseiten erschienen ca. 911 in Schwarz/Weiß, die letzten 475 in Farbe.
Zwar nur gerade mal 48 Zeitungen (andere Comic-Helden wurden von oft 1.000 oder mehr Blättern übernommen) - manche Chronisten sagen sogar, es seien nur 35 gewesen -, druckten seinerzeit die anspruchsvollen Sunday Pages mit Herrimans aberwitzigen Panels um das Dreiecksproblem unerfüllter Liebe, das Echo aber, vor allem in intellektuellen Kreisen, war enorm.
Die als Spiegel für ihre Leser gedachten Geschichten sind im Grunde und im Kern so einfach wie alltäglich: Eine androgyne schwarze Katze liebt bedingungslos die durchtriebene, ja hinterhältige Maus Ignatz, die ihr zum nachhaltigen Beweis ihrer Ablehnung, ja ihrer Abscheu regelmäßig Ziegelsteine - und das in großer Zahl - an den Kopf wirft. Krazy Kat allerdings faßt das in verliebter Verblendung als Liebesbeweis auf, während Hundepolizist Offissa Pupp, wiederum in heimlicher Liebe zur Katze entflammt, die heftigen An- und Einschläge zu verhindern sucht, indem er die Maus ins Gefängnis sperrt, das er ihr manchmal auch schnell auf ein Blatt Papier skizziert. Die plakative Brutalität der Ziegelsteinwürfe steht ebenso in der Tradition der Looney Tunes und Hanna-Barberas Tom und Jerry-Geschichten wie die prinzipielle Eintracht zwischen den Streithähnen und wird sogar heute noch als komisch empfunden. Schließlich erwacht Krazy Kat ja nach dem Ziegelstein-Treffer stets wieder aus der Bewußtlosigkeit, und das Liebewerben nimmt seinen Fortgang. Man beachte (siehe unten): Zum Geburtstag gratuliert Krazy Cat Ignatz mit einer Kerze auf einem Ziegelstein!
 

Dreiecksgeschichte mit Nebenfiguren
 
George Herriman schuf um dieses Liebes-Dreieck allerlei Nebenfiguren, denn allein mit dem Trio könnte sich die Story irgendwann totlaufen – was vermutlich wegen ihres Aberwitzes nie geschehen wäre. Also wurden Zusatz-Mäuse eingeführt, kam wegen des beträchlichen Umsatzes an „Bricks“ folgend fast zwangsläufig irgendwann der Ziegelstein-Hersteller Kolin Kelly (Hund) auf den Plan, betraten Dr. Ambrosius Knulp (Danke dafür dem Übersetzer), Doc Schleiereule, eine Kuh, die nicht über den Mond sprang, die Taube Panchita Paloma und die Klatschtante Mrs. Kwakk, eine (Zeitungs-)Ente gelegentlich die Szene. Herriman experimentierte auch mit Logik und Sprache munter drauflos, so schuf er für seine aufwendigen Panels geradezu surreale, dadaistische Szenerien in karger, Beckettscher  Landschaft mit kryptischen Kakteen und Felsen und ließ willkürlich Tag und Nacht wechseln. Augenzwinkernd intelligente Gags wechseln sich mit purem Nonsens, Slapstick und lustigen Mißverständnissen ab. Angelehnt an Rudolph Dirks Katzenjammer Kids, die schon ab 1897 in den Comic-Beilagen amerikanischer Tageszeitungen erschienen, schuf Herriman auch eine markante Akzent-geprägte Sprache, die formale Grenzen sprengt und Slang, Neologismen, phonetische Schreibweise, um die Ecke gedachte Anspielungen und Bildungsverweise zu einem gelegentlich schwer zu entschlüsselnden Dialog-Satzgebilde verknotet und Übersetzer vor wahre Aufgaben stellt. Hier ist das hervorragend gelungen.
 

Rosebud?
 
Apropos Akzeptanz, Bildungsverweise und Leserschaft: Der Kulturwissenschaftler Gilbert Sheldes brach als erster 1924 in seinem Buch „The Seven Lively Arts“ eine Lanze für George Herrimans Krazy Cat, stellte ihn neben Pablo Picassos Gemälde und Charlie Chaplins Filme. Picasso und Chaplin selbst, Gertrude Stein, F. Scott Fitzgerald, James Joyce (der sich die neuesten Folgen per Ferngespräch durchs Telefon beschreiben ließ!), US-Präsident Woodrow Wilson, Jackson Pollock, Frank Capra, P.G. Wodehouse, Willem de Kooning, sind bzw. waren allesamt bekennende Krazy Kat-Fans. Und was William Randolph Hearst angeht: Vielleicht war Krazy Kat ja für ihn das, was für sein biographisches Film-Alter-Ego Charles Foster Kane Rosebud ist. Auf jeden Fall ein geniales Mysterium der Comic-Geschichte.


Musenkuß!

Der prachtvolle, opulente, üppige – kein Superlativ reicht aus - Band im Format 30 x 44 cm und knapp 7 kg Gewicht enthält alle Krazy-Kat-Geschichten in Farbe und in Original-Größe aus den Jahren 1935–1944, sowie eine ausführliche Einleitung von Alexander Braun, der Herrimans multi-ethnischen Background (kreolisch-griechisch) beleuchtet und dem Außergewöhnlichen dieses zeitlosen Gesamtkunstwerkes um eine höchst merkwürdige Katze und ihre kaum weniger verdrehte Welt nachspürt. Für diese Inkunabel des Comics, deren Preis unbedingt angemessen ist, gibt es ohne Frage unser Prädikat, den Musenkuß – mit Sternchen. Sehr zu empfehlen - unser Buch des Monats!
 
Der Autor
Alexander Braun (geboren 1966) ist bildender Künstler mit zahlreichen Auszeichnungen, Stipendien und Ausstellungen. Neben seiner freien künstlerischen Tätigkeit studierte er Kunstgeschichte in Bochum und Berlin (Promotion 1996 zum Werk des amerikanischen Installationskünstlers Robert Gober). Braun hat in den letzten beiden Jahrzehnten eine der umfangreichsten Sammlungen zur Geschichte der Comics zusammengetragen. Seit 2008 kuratierte er zahlreiche Museumsausstellungen zum Thema, darunter 2012/13 die umfassende Retrospektive zum Werk von Winsor McCay. 2011 gründete er die German Academy of Comic Art.


George Herrimans „Krazy Kat“. Die kompletten Sonntagsseiten in Farbe 1935–1944
Hrsg. von Alexander Braun
© 2019 Taschen GmbH, 632 farbige Seiten, geprägtes Leinen, 30 x 44 cm, in einem farbig bedruckten, stabilen Transportkarton mit Tragegriff – ISBN (deutsche Ausgabe): 978-3-8365-7194-4  - ISBN (englische Ausgabe): 978-3-8365-6636-0
150,- €

Weitere Informationen:  www.taschen.com