Unverhofft (2)

Eine Kriminalerzählung

von Frank Becker

Foto © Frank Becker

Unverhofft (2)
 
Das Schlimmste, was er bisher getan hatte, war einmal an der Kasse im Supermarkt zuviel erhaltenes Wechselgeld nicht zurück gegeben zu haben. Und nun das. Unehrlichkeit war anscheinend ein Begriff, welcher gewogen und bemessen an der Verlockung der Beute der Relativität unterlag. Am Morgen noch war dieser Tag wie alle Tage in seinem ordentlich geregelten, unaufgeregten Leben gewesen. Er hatte pünktlich seinen Aktenschrank aufgeschlossen und die Büropflanzen gewässert. Mittags hatte er in der Kantine das Lammcurry gegessen, das so indisch war wie die portugiesische Köchin, die es mit wenig Phantasie und noch weniger Gewürzen zubereitet hatte. Dabei hatte er von frischem Seefisch geträumt. Red Snapper schmeckte angeblich gut, hatte er mal in einem Bericht über die Meeresfauna der Karibik gelesen. Zum klebrigen Plunderteilchen hatte er sich den üblichen Automatenkaffee gegönnt, der nach gewachstem Pappbecher schmeckte und bis zum Feierabend ein paar Akten bearbeitet, bevor er sich auf den Heimweg machte.
Seit er nach Jahren des Wartens einen Parkplatz auf dem Firmengelände bekommen hatte, fuhr er nicht mehr mit dem Bus. Sein gebrauchter japanischer Mittelklassewagen schenkte ihm die Bequemlichkeit, sich nicht länger im öffentlichen Personen-Nahverkehr den mitunter eigenwilligen Körperausdünstungen seiner Mitmenschen und dem lästigen Gezirpe ungezählter MP3-Ohrknöpfe aussetzen zu müssen. Schmölders war kein begeisterter Autofahrer, aber besonnen und sicher. An diesem Tag hatte er den Wagen durch den Feierabendverkehr gelenkt, auch das Innenstadtgewühl überstanden und sogar einen Parkplatz im Zentrum gefunden. In der Einkaufsmeile der Stadtmitte hatte er ein paar Kleinigkeiten erledigt. Früher nahm man sich dort Zeit zu einem Bummel, heute eilte man rasch vorbei an Billigläden und Dönerbuden, um nur schnell wieder fort zu kommen
 
Auf dem letzten Stück seines Heimwegs steuerte er durch den Kreisel am Bahnhof und durch die Unterführung sein Viertel in der Vorstadt an. Beim Bäcker und Schlachter um die Ecke wollte er noch Brot und Aufschnitt für das Abendessen kaufen, als es geschah. Urplötzlich war das schwere Motorrad von links hinten aufgetaucht, hatte seinen Wagen im dichten Verkehr fast touchiert, war ins Schlingern geraten, noch einmal beinahe gegen ihn gestoßen und dann funkenstiebend gestürzt. Der Fahrer in der schwarzen Ledermontur blieb reglos liegen, am schwarzen Helm war das dunkle Visier heruntergeklappt. Beim Sturz flog in elegantem Bogen eine graue Tasche, die vor dem Fahrer auf dem Tank gelegen haben mußte, weit auf die Straße, wurde von zwei entgegenkommenden Wagen überrollt und vor Schmölders Japaner geschleudert. Trotz kräftigen Tritts auf die Bremse rutschte er noch ein paar Meter mit quietschenden Reifen an der Unfallstelle vorbei, bevor er stand. Er brauchte einen Moment, um sich fassen, dann machte er den Gurt los und stieg mit weichen Knien aus. Der Motorradfahrer war mittlerweile von eilig herbei gelaufenen Passanten umringt, Schmölders sah eine matte Bewegung der Hand des Mannes mit Helm, der Verkehr begann sich in beiden Richtungen schnell zu stauen. Von ferne war eine Polizeisirene zu hören. Alle schauten auf den am Boden liegenden Verletzten. Niemand achtete auf Schmölders, der erst jetzt sah, daß sein Wagen die Tasche mitgeschleift hatte. Sie war am Reißverschluß aufgeplatzt und ließ einen Blick auf den Inhalt zu, der jetzt, zwanzig Minuten später, in der dämmrigen Wohnung im zweiten Stock herumlag und Schmölders Ruhe bedrohte. Alles Weitere war ohne Plan und Überlegung geschehen: die Tasche aufheben, in den Wagen legen, einsteigen und weiterfahren. Er erinnerte sich nicht, ob ihn jemand beobachtet hatte, ob ihn jemand zu Hause beim Aussteigen gesehen und wie er es mit klopfenden Schläfen bis in seine Wohnung im zweiten Stock geschafft hatte, ohne ohnmächtig zu werden.

Mit fliegenden Händen hatte er die Tür aufgeschlossen, sie hinter sich zugedrückt und sich von innen dagegen gelehnt. Jetzt wurde es Nacht. Schmölders hatte nie viel getrunken, aber jetzt trank er – zunächst, um die zitternden Hände zu beruhigen, dann, um überlegen zu können, schließlich, weil es ihm gut tat, sich inmitten eines Berges Geld zu betrinken. Die Vorhänge hatte er zugezogen, als es längst dunkel war, nur wenig Licht gemacht, die Scheine auf dem Küchentisch gestapelt und die für irgendeinen Festtag reservierte Flasche Wein entkorkt. Er zählte, trank und zählte erneut. Bei einer Million, siebenhundert Tausend, fünfhundertzwanzig Euro schlief er ein, den Kopf auf dem Tisch und dem Geld, wobei er das Weinglas umstieß und die Neige verschüttete. Es war einfach zu viel gewesen. Alles.
Als Schmölders erwachte, preßte sich der helle Tag grell durch die Ritzen des Vorhangs in sein Schlafzimmer. Der Radiowecker zeigte 11.45 Uhr. Er hatte ihn nicht gehört. Geräusche von der Straße drangen herein. Er hätte längst im Büro sein müssen. Ein Griff an die heftig pochende Stirn – die Festtagsflasche war kein Premier Cru gewesen. Er stützte sich ächzend auf die Ellbogen, sah an sich herunter und fand sich noch in der zerknautschten Kleidung von gestern. Schmölders erhob sich mühsam vom Bett, unausgeschlafen und verkatert. Wie war er nur hinein gekommen? Als er stöhnend zur Tür schlurfte, wurde ihm mit einem Schlage siedend heiß: es war Freitag. Und Freitag hieß: Frau Hellriegel! Nervös angespannt öffnete Andreas Schmölders die Tür zum Flur: Stille – niemand da. Mit dröhnenden Kopfschmerzen inspizierte er seine Zweizimmerwohnung, die Küche, das Bad, die Abstellkammer. Nirgends ein Geldschein, nicht auf den Dielen, nicht in der Küche, nicht in der Kammer. Die Wohnung war aufgeräumt und sauber. Die graue Tasche fort. In der Küche lag auf dem Resopaltisch die sorgfältig gefaltete Morgenzeitung. Der Aufmacher: „1,8 Millionen! Motorrad-Gangster gefaßt! Beute verschwunden!“ - und obenauf Frau Hellriegels Wohnungsschlüssel nebst einer Praline. Schmölders wurde zum zweiten Mal übel. Er schaffte es noch bis ins Bad.
 
Zwei Tage später ging er wieder ins Büro. Man hatte sein Fernbleiben der grassierenden Magen- Darm-Grippe zugeschrieben, es bedauert und entschuldigt. Der Überfall auf die Zentralbank gab noch immer reichlich Gesprächsstoff her. Andreas Schmölders beteiligte sich nicht an den Spekulationen. Er war genug mit dem Aufruhr in seinem Kopf und in seinem Magen beschäftigt. Er war überrascht, wie schnell er zurück in den Schatten trat, aus dem er für ein paar unerhörte Stunden heraus getreten war. Vielleicht gut so – wie hätte er, Andreas Schmölders mit diesem Geld umgehen, seinen plötzlichen Wohlstand erklären oder gar eine Flucht, ein neues Leben organisieren sollen?
Frau Hellriegel kam nicht mehr. Schmölders hielt es für müßig, ihre Adresse aufzusuchen. Er war enttäuscht, ja, es schmerzte ihn, sich vorzustellen, was sie mit dem Geld anstellte – und mit wem. Fortan brachte er seine Hemden in eine Wäscherei.
 
Vier Monate später, es war ein ungemütlich regnerischer Herbst-Freitag, wie er im Bergischen Land das ganze Jahr über typisch ist, lag in seinem Briefkasten ein wattiertes Kuvert ohne Absender, seine Anschrift in Blockbuchstaben und über der exotischen Briefmarke ein verwischter Stempel. Seine Hände zitterten leicht, als er sich an den Küchentisch setzte, es langsam öffnete und den Inhalt herauszog. Ihm wurde warm, als er sah, was vor ihm lag: ein Flugschein auf seinen Namen „One Way“ von Düsseldorf nach Nassau/Bahamas via Miami mit Anschlußflug nach Eleuthera, ein Quittungs-Zettel mit der Nummer eines Liegeplatzes der Marina in Governors Harbour und das Foto einer traumschönen weißen 45 Fuß Cabo Rico Segelyacht auf türkis schimmerndem, glasklarem Meer vor dem Hintergrund eines von Palmen gesäumten makellosen Sandstrandes. Am Heck war deutlich der Name „Eleonore“ zu lesen. Der messingne Kabinenschlüssel fiel klingelnd auf die Resopalplatte. Keine Zeile, aber ein Hauch von grünem Apfel mit der Würze von Zimt und sanfter Vanille: „All About Eve“. Ein unbekanntes, eigentümliches Gefühl von Ruhe überkam ihn. Andreas Schmölders packte eine kleine Reisetasche mit Sommersachen, steckte seinen Paß ein, drehte sich noch einmal um und zog die Tür hinter sich ins Schloß.

© 2004/2019 Frank Becker