Vergessene Zauberformeln in Märchen der Weltliteratur

Von in Notlagen versagenden Synapsenverbindungen

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
Vergessene Zauberformeln
in Märchen der Weltliteratur
 
Von in Notlagen versagenden Synapsenverbindungen
 
 
Von Heinz Rölleke
 
 
Kaum ein Mensch, der die Geschichten aus „1001 Nacht“ gehört oder gelesen hat, dürfte eines der eindrucksvollsten Motive der orientalischen Märchensammlung vergessen haben: ein Zauberwort, mit dem man Felsen öffnen kann. Ali Baba erfährt das Wort „Sesam“, als er vierzig Räuber belauscht und in ihrem Tun beobachtet. Nach deren Weggang öffnet er mit diesem Wort ihre mit Schätzen gefüllte Felsenhöhle, die sich nach seinem Eintritt wieder schließt; er kann seine drei mit Gold beladenen Esel heimführen, nachdem er durch dasselbe Zauberwort den Fels wieder aufgeschlossen hat. Sein ohnehin schon reicher Bruder Kasim entlockt ihm das Geheimnis, dringt in den Felsen ein und belädt gleich zehn Esel mit Gold. Als er aber die Höhle wieder verlassen will, hat er den Zauberspruch „Sesam, tu dich auf“ vergessen. Die in ihre Höhle zurückkehrenden Räuber vierteilen den hilf- und rettungslos Eingeschlossenen.
 
Die älteste Überlieferung des „Sesam“-Motivs ist eine um 1050 n. Chr. aufgezeichnete buddhistische Anekdote, deren Kernmotiv sich im Lauf der Jahrhunderte in verschiedenen Erzählfassungen über die ganze Welt verbreitet hat. Der Name „Sesam“ rührt von der Bezeichnung der wohl ältesten Ölpflanze der Welt her, die vor etwa 3500 Jahren in Indien nachweisbar und wahrscheinlich auch dort beheimatet ist. Der Pflanze wurden wunderbare Kräfte zugeschrieben unter anderen, daß sie magisch binden (festbannen) und lösen half und überdies ganz prosaisch zum Ölen von Schlüssel(löcher)n benutzt wurde. Hätte der goldgierige Kasim etwas von dieser Herkunft des magischen Namens gewußt, so wäre das möglicherweise eine Eselsbrücke für die Erinnerung an das Wort „Sesam“ gewesen. Indes fanden in seinem Zustand der Klaustrophobie und der Todesangst seine entsprechenden Synapsen nicht mehr zueinander.
 
Das Eingangsmotiv der „Ali Baba“-Geschichte findet sich seit 1815 unter dem Titel „Simeliberg“ auch in den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm. Hier heißt es von dem Eingeschlossenen, der mithilfe der richtigen Formel „Berg Semsi tu dich auf“ in die Räuberhöhle eingedrungen war:
 
            Er wollte seine Last hinausbringen, weil aber Herz und Sinn ganz voll von den Schätzen waren, hatte er darüber den Namen des Berges vergessen und rief: 'Berg Simeli, tu dich auf.' Aber das war der rechte Name nicht […]. Da ward ihm angst, aber je länger er nachsann, desto mehr verwirrten sich seine Gedanken […] und die Räuber schlugen ihm das Haupt ab.“
 
Das merkwürdige und psychologisch durchaus stimmig eingesetzte Motiv findet sich noch ein zweites Mal in der Grimm'schen Sammlung, und zwar im berühmten Märchen „Der süße Brei.“ Ein armes frommes Mädchen und seine Mutter drohen zu verhungern. Eine alte Frau schenkt dem Mädchen ein Töpfchen und verrät ihm die zaubermächtigen Gebrauchsfomeln. Sagt man zu dem Töpfchen
 
            „'Töpfchen, koche', so kochte es guten süßen Hirsenbrei, und wenn man sagt: 'Töpfchen, steh', so hörte es wieder auf zu kochen.“
 
Die Mutter probiert das Zauberwort, als das Mädchen einmal fortgegangen ist. Ähnlich dem orientalischen Kasim scheint sie aber einen Anflug von Unersättlichkeit zu haben, denn das Breitöpfchen kocht alsbald über, füllt das Haus und die ganze Straße „als wollt's die ganze Welt satt machen, und ist die größte Not, und kein Mensch weiß sich da zu helfen“, denn die Mutter hat das Wort vergessen, mit dem man das unaufhörliche Kochen beenden kann. Aus der Hungersnot zum Ersticken in Lebensmitteln ist ein kleiner Schritt, wenn man in seiner Gier das Zauberwort vergisst und in der wachsenden Gefahr sich immer mehr in seinen Panikgedanken verwirrt. Hier gibt es allerdings ein Happyend, denn die „fromme“ Tochter kehrt heim und spricht das erlösende Wort.
 
Es ist nicht schwer, eine recht genaue Verwandtschaft der kleinen Erzählung mit Goethes berühmter Ballade „Der Zauberlehrling“ auszumachen: Auch hier entfernt sich die Person, die allein die Zauberformeln beherrscht und sinnvoll anzuwenden versteht, vorübergehend vom Ort der Handlung. Der unreife Lehrling handhabt die Eingangszauberformel perfekt, kann aber den dadurch hervorgerufenen Wasserschwall ebenso wenig stoppen wie die Mutter die Überschwemmung durch den Hirsenbrei:
 
                        „Ach, ich merk' es! Wehe! wehe!
                        Hab' ich doch das Wort vergessen!
                        […] Helft mir, ach! Ihr hohen Mächte!                    
                        […] Ach, da kommt der Meister!
                        Herr, die Not ist groß!
                        Die ich rief, die Geister,
                        Werd ich nun nicht los.“
 
Schon die Brüder Grimm merkten zur Verwandtschaft zwischen der 1788 erschienenen Ballade und ihrem kurzen Märchen an:
 
            „zu vergleichen ist […] die Sage vom Zauberlehrling (aus Lucians φιλοψευδὴς) in Goethes Lied; wie wohl sie eine Darstellung ohne gleichen dort erfahren hat, so tritt doch die eigentlich tiefe Mythe nicht so klar hervor und der Nachdruck ruht auf der Herrschaft des Meisters.“
 
Die „Mythe“ erzählt von der Vergesslichkeit der maßlos die Wundergaben mißbrauchenden Märchenfiguren – eine Allegorie auch auf die moderne Konsumgesellschaft. Figuren wie das fromme Mädchen im Märchen und der weise Meister in der Ballade erscheinen da immer seltener als Retter aus der Sackgasse.
 
Der große schwäbische Märchenerzähler Wilhelm Hauff hat in seinem „Mährchen-Almanach auf das Jahr 1826 für Söhne und Töchter gebildeter Stände“ (also für Leser, die lateinkundig waren) das Motiv aufgenommen und originell abgewandelt. Seine „Geschichte von Kalif Storch“ erzählt vom Kalifen Chasid in Bagdad und seinem Großwesir Selim. Sie erwerben eine geheimnisvolle Dose mit zugehöriger Inschrift:
 
            „Wer von dem Pulver dieser Dose schnupft und dazu spricht 'mutabor', der kann sich in jedes Tier verwandeln […]. Will er wieder in seine menschliche Gestalt zurückkehren, so neige er sich dreimal gen Osten und spreche jenes Wort.“
 
Selim hatte mit Recht vermutet, daß das Zauberwort lateinisch sei, kannte aber anscheinend nicht dessen Bedeutung. Man verwandelt sich, um einen Spaß zu haben, in zwei Störche. Die erwünschte Entwandlung scheitert aber zunächst:
 
            „O Jammer! Das Zauberwort war ihnen entfallen, und so oft sich auch der Kalif bückte, so sehnlich auch sein Wesir 'Mu - Mu' dazu rief, jede Erinnerung daran war verschwunden.“
 
Mit dem Verlust der „Erinnerung“ beginnen die bedrohlichen Angstzustände in solchen Situationen; der Wesir bemerkt das zuerst:
 
            „Er teilte seine Angst deswegen dem Kalifen mit: 'Potz Mecca und Medina! Das wäre ein schlechter Spaß, wenn ich ein Storch bleiben müsste! Besinne dich doch auf das dumme Wort, ich bring es nicht heraus.' 'Dreimal gen Osten müssen wir uns bücken, und dazu sprechen 'Mu – Mu – Mu' […] o Jammer.“
 
In ihrer Storchengestalt belauschen sie einen Zauberer, der ursprünglich an ihrer Verwandlung schuld ist:
 
            „'Was für ein Wort hast du ihnen denn aufgegeben?' fragte ihn ein anderer Zauberer. 'Ein recht schweres lateinisches, es heißt M u t a b o r .'“
 
Die zuvor Verzweifelnden können nun ihr Wissen nutzen, und im Nu sind sie entwandelt,
 
            „und in der hohen Freude des neu geschenkten Lebens lagen Herr und Diener einander in den Armen.“
 
Hauff, der nach E.T.A. Hoffmann die literarische Gattung des romantischen Kunstmärchens in ein realistischeres Erzählen führte, beschreibt mit den Begriffen 'namenlose Angst', 'böser Spaß', 'hilfloser Jammer' psychologisch stimmig die Gefühlsmischung, die zum Versagen der Synapsenverbindung führt. Es handelt sich um eine (meiste vorübergehende) Denkblockade, wie sie etwa bei plötzlich hilflosen Schülern an der Tafel oder bei Prüfungsfragen zu konstatieren ist (vgl. Fausts Feststellung: „Was man nicht weiß, das eben brauchte man,/ und was man weiß, kann man nicht brauchen“). Der Dichter Hauff beschreibt aber auch als einer der ersten die Empfindung der durch ein unerwartetes Wunder Geretteten: Es fließen Freudentränen der ungeheuren Erleichterung, mit dem man das Ende des Albtraums erlebt.
 
Der Hauslehrer Wilhelm Hauff gibt seinen Schülern aus der Schicht der „gebildeten Stände“ zu verstehen, daß gründliche Lateinkenntnis in allen möglichen Lebenslagen von Nutzen sein kann. Der Wesir war anscheinend nur halbgebildet, sonst hätte er in der Not eine Eselsbrücke über die deutsche Entsprechung des nur scheinbar rätselhaften lateinischen Wortes gefunden: 'mutare' bedeutet 'verwandeln', ist ein Verb der A-Konjugation und steht hier als scheinbar schwer verständliche Zauberformel in der 1. Person Singular, Futur I., Indikativ, Passiv ('ich werde verwandelt werden').
 
In der Modernen Literatur kommt man seinem schrecklichen Schicksal einer unwiderruflichen Verwandlung weder mithilfe eines Wunders noch durch gute Lateinkenntnisse bei. Franz Kafkas 1915 entstandene berühmte Erzählung „Die Verwandlung“ beginnt mit einem Satz, der einem betäubenden Hammerschlag gleicht: „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.“ Aus dieser Betäubung erwachen weder der Held der Geschichte noch der Leser. Der Albtraum endet nicht in einer Erlösung, nicht einmal in einer Erklärung. Der moderne Mensch vermag die Gründe für seine existenzielle Angst nicht herauszufinden, und es wird ihm schon gar keine Gelegenheit geboten, ihr zu entkommen. Gregor Samsa kann sich nicht aus seiner Tierverwandlung, die aus ihm ein „es“ gemacht hat, befreien, und es wird ihm auch in keinster Weise dazu geholfen. Sein Ende ist trostlos. Die Bedienerin hatte die Leiche des monströsen Käfers entdeckt:
 
            „'Sehen Sie nur mal an, es ist krepiert, da liegt es, ganz und gar krepiert!' […] und stieß zum Beweis Gregors Leiche mit dem Besen noch ein Stück seitwärts. [...] 'Ja', antwortete die Bedienerin und konnte vor freundlichem Lachen nicht gleich weiterreden, 'also darüber, wie das Zeug von nebenan weggeschafft werden soll, müssen Sie sich keine Sorgen machen. Es ist schon in Ordnung.'“
 
An das „Zauberwort“, mit dessen 'Treffen' nach dem Motto Joseph von Eichendorffs sich alle Düsternisse aufhellen („und die Welt hebt an zu singen, triffst du nur das Zauberwort“), vermag man in neueren Zeiten wohl nicht mehr zu glauben – das verwünschende Wort scheint hingegen noch zu wirken, aber es bleibt in der Regel dauernd verborgen.
 
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2019

 Redaktion: Frank Becker