Der Märchenwald

Von Bäumen und Wäldern in den Märchen der Brüder Grimm

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
Der Märchenwald
 
Von Bäumen und Wäldern
in den Märchen der Brüder Grimm
 
Von Heinz Rölleke
 
 
Die neueste unter den überaus zahlreichen Veröffentlichungen zum Thema „Märchen für Kinder“ trägt den Titel „Als die Tiere in den Wald zogen“. Sogleich im Vorwort zu den kinderpsychologisch verfahrenden 27 Interpretationen meist Grimm'scher Märchen (die Brüder Grimm werden ständig fälschlich als „Gebrüder“ geführt) wird die offenbar ausschließlich deduktiv hergeleitete Bedeutung eines Zentralbegriffs dieses Titels festgeschrieben:
 
            „Die Handlungsorte der Märchen repräsentieren innerpsychologische Bereiche. So veranschaulicht der Wald beispielsweise das Unterbewußte, und zwar aufgrund seines ungeordneten, schwer zu durchdringenden Charakters und der Fülle an - pflanzlichem und tierischem - Leben, das in ihm wächst bzw. wohnt.“
 
Ob die Verfasserin bei ihrer innerpsychologischen Festlegung der nach ihrer Meinung wohl ausnahmslos gültigen Bedeutung des Märchenwaldes auch populäre Textpassagen wie die folgende einbezogen hat, muß sehr bezweifelt werden:
 
            „'Wo wohnt deine Grußmutter?' '[…] im Wald unter den drei großen Eichbäumen, da steht ihr Haus, unten sind die Nusshecken […]' , sieh einmal die schönen Blumen […] du hörst gar nicht, wie die Vöglein so lieblich singen […] und ist so lustig haußen in dem Wald'.“
 
Der Wald im „Rotkäppchen“-Märchen ist nicht „ungeordnet“, sondern offensichtlich wohl geordnet. Er ist schon gar nicht „schwer zu durchdringen“, denn es führt ein sicherer Weg hindurch geradewegs zu einem Haus, das ordentlich mit Hecken eingezäunt ist, und der Wald wird ferner ausschließlich durch seine „schönen Blumen“ und das liebliche Singen der „Vöglein“ charakterisiert. Kein Kenner der „Kinder- und Hausmärchen“ (künftig KHM) wird einen „undurchdringlichen“ Wald in einem Grimm'schen Märchen nennen können. Die eingangs zitierte pauschale Behauptung findet in keinem der 211 KHM eine Stütze. Die vorweg gegebene Definition des Motivs „Wald“ berücksichtigt in den herangezogenen Texten weder dessen eigentlichen Charakter (z.B. Herkunft und Funktion) noch seine primäre Bedeutung, was doch seit den lange vorausliegenden ergebnisreichen Studien zu „Märchen und Wirklichkeit“ selbstverständlich sein sollte.
 
Ob der Märchenwald (immer) einen „innerpsychologischen Bereich“ darstellt, sei dahingestellt. Tatsache ist, daß sich in diesem zentralen Motiv vieler Märchen der Weltliteratur reale Gegebenheiten und Erfahrungen spiegeln. Zur Zeit des Ursprungs der Märchen und ihrer frühen Tradition wurden die Landschaften noch weitgehend von Urwäldern beherrscht: Als die deutschen Lande in die Geschichte eintraten, soll das Verhältnis der wenigen bewohnten und bebauten Flächen zu den Urwäldern noch einem Prozentsatz von 10 zu 90 entsprochen haben. Diese kaum von Menschen betretenen, geschweige denn urbar gemachten riesigen Flächen empfand man als bedrohlich, so daß sie im Mittelalter und bis in die Neuzeit hinein mit dem Topos „wilder wald“ bezeichnet und in urtümlichen Vorstellungen als Lebensbereich numinoser Wesen aller Art wurde.
 
            „Sie kam in einen großen wilden Wald“ oder „da war nun das arme Mädchen allein in dem wilden Wald“ heißt es vom „Mädchen ohne Hände“ (KHM 31) und von der kleinen Schwester im Märchen „Die zwölf Brüder“ (KHM 9); „ich will in den wilden Wald laufen“ oder „ich habe dich erlöst aus dem wilden Wald“ sagen das siebenjährige „Sneewittchen“ (KHM 53) und die Prinzessin im Märchen „Der Eisenofen“ (KHM 127). Die alliterierende Wendung „wilder Wald“ ist eine also auch in Grimms Märchen häufig tradierte stereotype Formel. Sie bezeichnet - wie übrigens auch die parallel überlieferte Wendung vom „wilden Meer“ - ein dem Menschen schlechthin gefährliches Terrain. Im Märchen ist der Wald indes nicht nur ein Gebiet der (allerdings für den Märchenhelden schließlich nie tödlichen) Gefährdung, sondern auch der bevorzugte Ort für Begegnungen mit numinosen Mächten jeglicher Art. Tiere wie der Frosch (KHM 1) oder der Wolf (KHM 26) leben zeitweise oder immer im Wald und können sich in menschlicher Sprache artikulieren – eines der häufigsten unter den zahlreichen Märchenwundern. Riesen, Zwerge, Hexen und andere meist bedrohliche Gestalten, wie etwa auch der Dämon Rumpelstilzchen, begegnen den Menschen im Wald. Im Märchen „Der Soldat und der Schreiner“, das sich allerdings nur in der Erstauflage der Grimm'schen Sammlung findet, bringt es der furchtsame Schreiner auf den Punkt:
 
            „Da führte sie der Weg vor einen unbekannten großen Wald; der Furchtsame sprach: 'ich geh' nicht hinein, darin springen Hexen und Gespenster herum'.“
 
Der Wald gehört zu den Märchenschauplätzen, auf denen der Märchenheld in der „Isolation“ (fern seiner Familie oder der vertrauten Zivilisation) agiert – Voraussetzung für die Möglichkeit der „Allverbundenheit“ (Max Lüthi). Daß es sich bei solchen Wäldern um keine realen, sondern um schlechthin märchenhafte Gegebenheiten handelt, wird auch durch ein erstaunliches Nebenmotiv deutlich: Die Numinosen haben ihre Wohnsitze nicht etwa in Höhlen oder auf Bäumen, sondern sie leben alle in einem „Häuschen“, sei es die Hexe oder Rumpelstilzchen oder sogar der Märchenwolf, der nach Ausweis einiger Märchenvarianten tatsächlich in einem Zuckerhäuschen lebt.
 
Der Märchenwald hat in der gesamten europäischen, aber vornehmlich in der deutschen Märchenüberlieferung eine Aura, die vom Gefährdenden wie vom Wunderbaren gleichermaßen gespeist ist. Sie hat ihren Ursprung zum Teil in alten Religionsvorstellungen etwa den heiligen Hainen der Germanen, in denen dem Menschen freundlich gesinnte Götter lebten. Im Zuge der Christianisierung wurden diese Göttergestalten dämonisiert oder gar verteufelt. So gewinnen die Waldbewohner im Märchen zwielichtige Züge. Der Wald wird so selbst zum Ort des Mysterium tremendum et fascinosum schlechthin, Schrecken und Faszination ausstrahlend. Wald und Märchen stehen in engster Verbindung. In Deutschland gibt es seit Beginn des 20. Jahrhunderts Freizeitanlagen mit einzelnen Häuschen, in denen Märchenszenen (meist in Lebensgröße) nachgestellt sind und zu denen man wie in einer säkularisierten Prozession wandert, um sie einzeln zu betrachten. Auch wenn solche Anlagen nicht in einem Wald lokalisiert sind, nennt man sie mit dem bezeichnenden Kompositum „Märchenwald“. Auch in der ausländischen Literatur finden sich zuweilen Belege für die eng miteinander verbundenen Vorstellungen von 'Märchen' und (deutschem) 'Wald'. Bei Chesterton heißt es einmal von Father Brown: „Da erblickte er etwas typisch Deutsches: den Märchenwald.“
 
Nicht nur bei den Brüdern Grimm, auch in den deutschen Kunstmärchen der Romantik finden sich zahllose Belege des Waldmotivs. Die Dichotymie ist auch hier gegeben und womöglich noch verstärkt. Auf den dämonischen Aspekt hebt der Schluß von Ludwig Tiecks „Der Runenberg“ ab: Der Märchenheld verliert sich auf Nimmerwiedersehen in den von Dämonen beherrschten Wald:
 
            „Im Walde sahen sie ihn mit dem entsetzlichen Waldweibe sprechen […]. Der Unglückliche war aber seitdem nicht wieder gesehen.“
 
Die liebliche, dem Menschen freundliche Seite des Waldes wird am Ende von Brentanos „Klopfstock“-Märchen mit einem Vokabular vorgestellt, das an Grimms „Rotkäppchen“ erinnert, wenn die Märchenprinzessin ihren Wunsch äußert, ihr Leben künftig bei ihrem Geliebten zu verbringen:
 
            „Im Wald bei den Glockenblumen, bei den Vögeln, bei dem Trilltrall
will ich wohnen.“
 
Gegen Ende der Epoche wird der Wald auf der einen Seite zu einer Art Gotteshaus hochstilisiert (zum Beispiel in vielen Gedichten Eichendorffs), auf der andern kehrt die sogenannte Schwarze Romantik die Leib und Seele gefährdende Dämonie des Waldes noch stärker heraus (wie zum Beispiel in der als typisch deutsch geltenden Oper „Der Freischütz“ von Johann Friedrich Kind und Carl Maria von Weber).
 
Von dieser divergierenden Sicht haben sich Spuren bis in volkstümliche Lieder aus jüngerer Zeit erhalten, die auch dank ihrer Neo-Romantizismen ungewöhnlich populär waren und blieben.
 
1873 komponierte Franz Abt das Lied „Waldandacht“, auf einen eminent schwachen Text, das bis in unsere Zeit auch von berühmten seriösen Sängern immer wieder vorgetragen und durch Tonträger verbreitet wurde. Hier ist das ausschließlich positive Bild des Waldes, wie es etwa die tiefernste religiöse Romantik eines Eichendorff bietet, unerträglich sentimentalisiert, es ist seicht und kitschig geworden:
 
                        „Frühmorgens, wenn die Hähne krähn,
                        Eh' noch der Wachtel Ruf erschallt,
                        Eh' wärmer all die Lüfte wehn,
                        Vom Jagdhornruf das Echo hallt:
                        Dann gehet leise nach seiner Weise
                        Der liebe Herrgott durch den Wald.
                        […]
                        Die Bäume denken, nun lasst uns senken
                        Vorm lieben Herrgott das Gesträuch.
                        […]
                        Der liebe Gott geht durch den Wald.“
 
Der Präfaschist Hjalmar Kutzleb dichtete 1911 das Bündische Lied „Wir wollen zu Land ausfahren“, in dem das dem Wald in Urzeiten zugeordnete Mythen- und Zauberwesen fröhliche Urständ feiert:
 
                        „Und steigt aus tiefem Tale
                        heimlich und still die Nacht,
                        und sind vom Mondenstrahle
                        Gnomen und Elfen erwacht,
                        dämpfet die Stimme, die Schritte im Wald,
                        So hör'n, so schau'n wir manch Zaubergestalt,
                        Die wallt mit uns durch die Nacht.“
 
Das Lied wurde rasch ungeheuer populär, es fand Aufnahme in unzählige Liederbücher, war in Österreich und der Schweiz verbreitet und wurde gleichermaßen von der Bündischen Jugend, von Pfadfindern, CVJMlern, Hitlerjungen und vielen der nach 1945 wieder zugelassenen Jugendgruppen mit Begeisterung gesungen. Zuletzt hat der Barde Heino mit seiner Plattenaufnahme nochmals einen gewaltigen Boom ausgelöst.
 
Das ursprünglich im Märchen- und Sagenbereich beheimatete Waldmotiv ist in die Literatur verschiedenster Epochen bis in die Gegenwart eingewandert und erscheint so im Lauf der Jahrhunderte in immer wechselnden Aspekten und Beurteilungen. So ist es auch ein verlässlicher Spiegel der sich wandelnden faktischen Gegebenheiten und deren Beurteilung durch die Menschen der jeweiligen Generationen, von der furchterregenden Wildnis der alten Urwälder, über deren teilweise Rodung zur Landgewinnung, die Funktion als unermesslich große Jagdreviere, als ausgebeuteter Rohstofflieferant bis hin zur bewußten Kultivierung als Haine und Neuanpflanzungen als Stätten der Erholung und neuerlich vor allem als Retter des gefährdeten ökologischen Gleichgewichts. Die Geschichte des Waldes selbst, aber auch seine Entwicklung als literarisches Motiv sagt einiges über die Geschichte der Menschheit aus.
Es wird in diesem Sinne lohnend sein, nicht nur die Evolution des Waldes selbst, sondern auch den Umgang des Menschen mit diesen sich wandelnden Gegebenheiten, wie er sich deutlich in der Literatur nachzeichnen läßt, zu studieren, denn schließlich gilt: „Das eigentliche Studium der Menschheit ist der Mensch“ (Goethe).
 
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2019