Der Zauber des Alltäglichen

Helmut Krausser – „Zur Wildnis“

von Frank Becker

Der Zauber des Alltäglichen
 
Kneipengespräche aus Berlin-Neukölln,
genau abgelauscht oder gut ausgedacht
 
Wenn ich die Vorstellung eines Buches mit seinem Klappentext beginne, hat das nichts mit Faulheit zu tun. Na ja, vielleicht doch ein ganz kleines bißchen.Es ist aber, wie in diesem Falle, einfach so, daß man es einfach präziser kaum tun könnte. Also: In der Neuköllner Eckkneipe »Zur Wildnis«, wo Helmut Krausser ein-, zweimal die Woche mit Freunden Backgammon spielt, finden Begegnungen, Gespräche und Diskussionen zwischen Menschen statt, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Das liegt an den sehr sozialen Bierpreisen und einer wohnzimmerhaften Atmosphäre. Zeit läßt sich hier gemütlich verdümpeln, und bei Manni, dem Wirt, kann man als Stammgast anschreiben lassen, ohne eine mißbilligende Grimasse zu riskieren. Wegen des Status als Raucherkneipe gibt es in der »Wildnis« nichts mehr zu essen. Das Ordnungsamt erlaubt den Gästen aber, Essen von zuhause mitzubringen und es sich vom Wirt aufwärmen zu lassen. Manni hat folglich eine Mikrowelle angeschafft, und ein bißchen »Mitgebrachtes« hat er immer im Kühlschrank. Buletten, Bockwurst, Kartoffelsalat, solche Sachen. Touristen verirren sich eher selten hierher, aber falls doch, werden sie so nachlässig bedient, daß sie gleich wieder gehen.
Krausser hat seine Erlebnisse in der »Wildnis« in Kolumnen gefaßt, die von 2015 bis 2018 im Berliner Stadtmagazin »Zitty« erschienen sind: pointierte, komische, lebenspralle Beobachtungen aus der Großstadt.
 
Helmut Krausser, der in den Geschichten seiner „Zitty“-Kolumne als er selbst auftritt und das Leben im „Zur Wildnis“ beobachtet und liebevoll beschreibt, hat damit ein ganz großes Bild durchschnittlicher Menschen im ganz Kleinen gezeichnet. Es ist der Blick auf die ganz persönlichen Eigenheiten, Meinungen und Haltungen der Leute, die sich bei Manni und im Kreise von nicht immer, in Grunde eigentlich nie Gleichgesinnten aufgehoben und wohl fühlen. Jeder gilt. Helmut Krausser läßt den Reigen seiner Protagonisten stets wiederkehren, bis man sie alle irgendwie persönlich zu kennen glaubt und gerne einmal treffen würde: Gabi und Sonja, die beiden Lesben, den integrierten Syrer Ahmed, Ursula al. Gecko, die attraktive Lina, den Muffel Rudi, Latzhosenträger Thilo, die Voodo-Priesterin Olga, das Gespenst Siegfried, Rollstuhlfahrer Johann, Müdervater und all die anderen, die regelmäßig oder gelegentlich auf ein Bier oder ein Spiel vorbeischauen. Der Gesprächsstoff geht der buntgescheckten Runde nie aus, aber echte Streitfälle sind selten und werden stets irgendwie aufgelöst. Es ist die besondere Art von Harmonie, die über dem Ganzen liegt und sich beinahe wie ein Zauber des Alltäglichen über die Szene legt, die das Leben im „Zur Wildnis“ auch für den lesenden Zaungast so liebenswert macht. Wer würde nicht gerne in einer solchen Kneipe verkehren?
 
Selten habe ich in jüngerer Zeit etwas Besseres lesen dürfen (und ich habe das jetzt schon zweimal getan) als diese 45 treffsicheren, witzigen, eloquenten und überaus klugen Miniaturen. Dafür den Musenkuß für Helmut Krausser und sein Buch!
 
Helmut Krausser – „Zur Wildnis“
45 Kurze aus Berlin
© 2019 Verlag Klaus Wagenbach, WAT [814], 155 Seiten, Broschur - ISBN 978-3-8031-2814-0
11,90 €
Weitere Informationen:  www.wagenbach.de