Beckfelds Briefe

An Nicholas Winton

von Hermann Beckfeld

Nicholas Winton - Foto © Hynek Moravec
Nicholas Winton hätte seine Heldentat am liebsten verschwiegen, versteckt auf einem verstaubten Dachboden. Dort entdeckte seine Frau einen alten Koffer, öffnete ihn. Und so erfuhr die ganze Welt, daß der verschrobene Brite Hunderte von Kindern vor den Untaten der grausamen NS-Verbrecher bewahrte.
 
Sehr geehrter Nicholas Winton,
ich kann nicht sagen, was mich mehr berührt hat. Der Film über die TV-Sendung, als die Moderatorin Gäste, denen Sie das Leben gerettet haben, bittet, aufzustehen; fast alle im großen Zuschauerraum erheben sich, klatschen minutenlang, und Sie wischen sich verschämt Tränen aus den Augen.
     Oder ist es das Video, aufgenommen an Ihrem 100. Geburtstag im Londoner Bahnhof Liverpool Street. Sie sitzen im Rollstuhl, als „The Winton Train“ einläuft, in dem einige der Holocaust-Überlebenden aus den Fenstern schauen; so wie fast 70 Jahre zuvor, als sie noch Kinder waren. Da gelang ihnen in letzter Minute die Flucht aus Prag, die Flucht vor den mörderischen Nazis.
     Oder ist es doch der Gedanke daran, wie Ihre bis dahin ahnungslose Frau Grete 1988, also 40 Jahre nach Ihrer Heldentat, auf dem Dachstuhl Ihres Anwesens für Ordnung sorgen will und durch Zufall einen verstaubten Koffer entdeckt. Darin findet sie eine Liste mit den Namen der 669 Jungen und Mädchen, die Ihnen das Leben verdanken, dazu vergilbte Zeitungsartikel, Fotos und Briefe der Eltern, die in der Tschechoslowakei zurückbleiben mußten. Die meisten von ihnen starben in den Gaskammern. So erfährt Ihre Frau, so erfahren wir, was Sie, der britische Schindler, jahrzehntelang selbst Ihrer Familie verschweigen wollten; daß Sie es waren, der die Transporte der jüdischen Kinder auf die Insel organisierte. Der für die Aktion Spenden sammelte, in England Pflegeeltern gewinnen konnte und von Prag aus ein Flugzeug und sieben Züge vor und nach dem deutschen Einmarsch auf die Reise schickte.
     Einen Zug, der am 1. September 1938 250 Kinder in Sicherheit bringen sollte, ließen die NS-Befehlshaber nicht mehr fahren. Vermutlich war dies das Todesurteil für die Jungen und Mädchen.
     Als die BBC über Ihre Rettungsaktion berichtet, werden Sie zum gefeierten Helden, der Sie gar nicht sein wollen. Journalisten aus aller Welt kommen ins beschauliche Maidenhead westlich von London, um Sie in Ihrem chaletartigen Haus zu interviewen. Sie werden zu Talkshows eingeladen, die Queen schlägt Sie zum Ritter, drei Mal werden Sie vergeblich für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen. Ein Spielfilm macht Sie auch in Amerika bekannt, wo er seit Jahren kostenlos an alle Lehrer verliehen wird.
     Warum haben Sie all die Jahre geschwiegen? Wollten Sie sich nicht aufspielen, wohlwissend, daß nur ein Team diese Aktion hat stemmen können?
Hatten Sie Angst vor dem Trubel, der Ihr zurückgezogenes Leben in dem Provinznest zerstört hätte? Schließlich galten Sie als ein in sich gekehrter, etwas verschrobener, die Einsamkeit suchender Mann mit trockenem, englischem Humor. „Es wird auch ein bißchen langweilig, wenn man 100 Jahre lang über ein und dieselbe Sache reden soll.“
 
Verehrter Nicholas Winton,
Sie haben Ihr Geheimnis mit ins Grab genommen, starben am 1. Juli 2015 im Alter von 106 Jahren. Ich schreibe Ihnen spät, aber nicht zu spät, denn Vorbilder, wie Sie es sind, brauchen wir für die Zukunft, um aus der Vergangenheit zu lernen. Ich danke dem Mann, der im Abspann des Films zu sehen ist. Mit einem Kind an der Hand verläßt er den Bahnhof. (16.09.2017)    
 
 
Mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlags Henselowsky Boschmann.
„Beckfelds Briefe“ erscheinen jeden Samstag im Wochenendmagazin der Ruhr Nachrichten.
„Beckfelds Briefe“ gibt es auch in Buchform 

Redaktion: Frank Becker