Umleitung

Der Weg des Paderborners

von Erwin Grosche

Foto © Frank Becker
Umleitung
 
Der Weg des Paderborners
 
1. Manche Menschen können sich von Natur aus auf ihre Energiequellen für spontane Entscheidungen verlassen. Paderborner müssen sich im Bett hart den Kopf zerbrechen, um zu einer endgültigen Lösung zu gelangen. Jedermann wird mit einem unterschiedlichen Maß an Weisheit geboren. Selbst ich erwische mich manchmal bei weisen Gedanken, die ich selbst nicht verstehe. Weisheit kann auch lästig sein. Mir reicht es manchmal, wenn andere weise sind und genieße selbst die Gnade der Dummheit. Ich bekam kürzlich eine Wohlfühl-Lampe geschenkt, die meine ostwestfälischen Empfindungen positiv verändern sollte. Ich meine nur, wer will das? Wer will immer gut gelaunt sein? Ich habe einen Nachbarn, der ist immer gut gelaunt und quält damit seine Umgebung. Gestern sah ich, wie er grinsend seinen Mülleimer auf den Bürgersteig fuhr und dabei war gar keine Müllabfuhr. Meine Wohlfühl-Lampe steht nun bei meinem Bruder, der gegenüber solchen Reizen völlig unempfänglich ist. Wenn ich ihn besuche, macht er immer für mich diese Wohlfühl-Lampe an. Danach gehe ich wieder hinaus in den Paderborner Regen und singe. Das ist der Weg der Umleitung.
 
2. Ich sah jetzt einen dicken Paderborner, der trug ein T-Shirt, auf dem ganz groß „PADERBORN“ zu lesen war. Natürlich ist eine gewisse Stadtverbundenheit zu begrüßen, aber dicke Paderborner sind nicht die idealen Werbeträger. Der flüchtige Betrachter denkt automatisch, daß wir Paderborner uns nur von Broers Bratwürstchen ernähren und wenig Sport treiben. Es stimmt schon, daß das Wort „PADERBORN“ sehr lang ist. Dünne asketische T-Shirt Träger würden bei ihrem Brustumfang das Wort „PADERBORN“ gar nicht auf ihre Vorderseite bekommen und müßten mit „BORN“-T-Shirts für einen Paderborner Fahrradladen fremdgehen. Die ideale Paderborner Identifikationsfigur liebt es vor Ampeln zu stehen, kaut gerne Kaugummis und kann Blasen bis zum Himmel machen. Der ideale Paderborner ist gutmütig und steht oft im Weg, weil er dort, wo er ist, seinen Platz gefunden hat.
Manchmal liegt dies natürlich auch an den Kaugummis, die auf Plätzen und Straßen kleben und manchen Paderborner so bodenständig machen.
Unvergessen ist die berühmte Paderborner Antikaugummiwegspuckkampagne, wo verzweifelt versucht wurde, den Ostwestfalen beizubringen, wie man auch ohne Ausspucken von Kaugummis glücklich werden kann. Aber natürlich kaut der Paderborner gerne Kaugummis, weil man sie nachher ausspucken kann. Es ist schon schwierig genug zu akzeptieren, daß man ein Kaugummi nicht hinunter schlucken darf. Gönnen wir uns einfach den Luxus des Ausspuckens und schließen Frieden mit unserem Temperament und unseren Gewohnheiten. Warum gibt es eigentlich keine Kirschbäume in der Innenstadt? Man könnte anstatt Kaugummis zu kauen Kirschen mampfen und nachher die Kirschsteine bis zu Ostermanns spucken. Das wäre eine Möglichkeit unangenehme alte Laster durch neue zu ersetzen. Das nenne ich Umleitung.

3. Anderen, nicht nur Landräten, einen Vorwurf zu machen, um ihre Verfehlungen zu korrigieren, ist als Ausdruck von großer Gnade und Mitleid einer der wichtigsten Dienste, die von einem Gefolgsmann erwartet werden. Das erfordert ein extremes Maß an Taktgefühl.
Manche Paderborner halten es für angebracht, anderen offen Ratschläge zu erteilen über etwas, was nicht bereitwillig akzeptiert wird und als Thema schwer anzuschneiden ist, und geben auf, wenn die Ratschläge nicht angenommen werden. Das nutzt niemanden und beruhigt lediglich den Geist des Ratgebers. Bevor man einem anderen Paderborner Rat erteilt, muß man zuerst feststellen, ob der andere sich in geeigneter Verfassung dafür befindet. Man könnte ihn einladen das Drei-HasenFenster zu besuchen oder erneut die Vorzüge des Pumpernickels zu entdecken. Dann muß man sorgsam die beste Zeit und Methode auswählen und die beabsichtigte Belehrung beiläufig einfließen lassen. Gesprächsanfänge wie: „Wenn ich Sie nicht so lieben würde...“ oder „Ich bin ein schlechter Mensch, aber...“ öffnen sehr oft Tür und Ohr.
Der Weg über die eigenen Mängel und Schnitzer ist immer dornenreich, Belehren aber eine schwierige Aufgabe. Wie kann jemand dieses letztgültige Ziel erreichen, wenn er andere bloß der Scham aussetzt. Ich denke zum Beispiel, daß . . ein Mann wie Eugen Drewermann einen anderen Weg gehen müßte, um seine Ideen langfristig umsetzen zu können. „Eine zu klare Pader wird von allen Fischen gemieden“.

4. In der Gegenwart von anderen zu gähnen ist ungebührlich. Bei einem unerwarteten Gähner, Paderbornern gilt dies schon als Zeichen von Temperament und Spontanität, reibe die Stirn mit der Hand von unten nach oben, was normalerweise genügt um ein Gähnen zu unterdrücken. Wenn das nicht funktioniert, verberge das Gähnen vor anderen, denke an Schützenoberst Jolmes hoch zu Roß, Bürgermeister Paus beim Bäumepflanzen oder anderen erhabenen Bildern aus dem Paderborner Gemeinwesen. Gähnen und unfreundlich sein läßt dich nicht großstädtisch wirken. Der Paderborner ist gerne traurig und sieht im hilflos sein ein Entgegenkommen. Beides sind melancholische Gesten eines geistigen Lebens. Gähnen und  freundlich sein zeigt ein Desinteresse an der Welt und widerspricht dem ostwestfälischen Wesen. Gehe lieber die Umleitung.

5. Einem Mann, der nie einen Fehler machte, kann man nicht trauen. Die Freude eines anderen kann man verzeihen. Es ist normal, daß andere Menschen lustig sind. Lachen und anderer Stimmungsreichtum beleben unsere Stadt und verändern vieles zum Guten. Es ist natürlich ein Unding, Fröh1ichkeit als Hauptwesensmerkmal zu verordnen. Die ostwestfälische Melancholie ist ebenfalls liebenswert und auch die Witzeerzähler brauchen Menschen, die über sie lachen und sie bewundern. Doch jede Bewunderung hat ihre Grenzen. Versuche, die rheinische Karnevalskultur in unsere Heimat zu verpflanzen, sind lobenswert doch anstrengend. Der Paderborner unterstützt natürlich den Karneval mit all seiner ihm gegebenen Höflichkeit. Er kommt verkleidet als Verwaltungsbeamter und Gesamtschullehrer, läßt den Karnevalszug über sich ergehen und geht dann wieder nach Hause. Der melancholische Paderborner braucht keinen Anlaß sich auszutoben. Ihm reicht der Regen und das Diözesanmuseum vor dem Dom, um ewige Nahrung für seine Grundstimmung zu finden.

6. Der Paderborner hilft, wo er kann. Not ist ihm ein Dorn im Auge, Hilfsbereitschaft sein zweiter Vorname. Der Paderborner ist nicht vom Stamme „Nimm“, sondern vom Stamme „Gib“. Ich kannte einen Paderborner Politiker, der sich im Alter unvernünftig und kaltherzig gegenüber seinen Untergebenen verhielt. Er fiel auf durch schnelles Autofahren und sonderbare Äußerungen in der Öffentlichkeit. Als er von andern zurechtgewiesen wurde, soll er gesagt haben: „Das geschieht alles zum Nutzen meines Nachfolgers. Nach meinem Abdanken werden die Menschen die Dinge unter meinem Nachfolger viel leichter nehmen können.“
Das ist eine der geheimen Formeln, die aus alten Zeiten übermittelt wurde. Merke: Brot ist nicht hart, außer der Pumpernickel.

7. Man muß „die Lektion des Platzregens“ verstehen. Ein Paderborner, der unterwegs von plötzlichen Regen überrascht wird, rennt die Straße hinunter, um nicht naß und durchtränkt zu werden. Wenn man es aber einmal als natürlich hinnimmt, im Regen naß zu werden, kann man mit unbewegtem Geist bis auf die Haut durchnäßt werden. Hier hat man noch Zeit und ist Teil der Beschaulichkeit. Eine Umleitung kann alle schneller zum Ziel führen. Ich kannte mal eine Frau, die war eine Umleitung. Die mußte man erst heiraten, bevor sie sich einem hingab. Der Weg ist das Ziel und eine Umleitung eine Entdeckungsreise. Diese Lektion gilt für alles.

8. Auf meinen vielen Reisen erzähle ich oft von meiner Stadt. Ich erzähle von den Bäuchen der Männer und der Schönheit der Frauen. Ich erzähle von meiner kleinen Stadt, wie von einem Kind, das irgendwann mal einmal erwachsen werden will und nicht weiß, wie grausam die Welt draußen ist. Ich erzähle von ihrem Ampelreichtum und natürlich von Herrn Weyhers Apfelkuchen. Manchmal schleichen sich dann junge Menschen zu meiner Bettstatt und bitten händeringend, ob ich sie nicht mitnehmen könnte in diese Stadt des Brotes und des Unerklärlichen. Ich winke dann immer ab und flüstere, daß sie erst prüfen so1len, warum sie dort sind, wo sie gerade sind. Jedes Leben hat seinen Grund und seine Bestimmung. Ich bin froh, daß ich in Paderborn ein Zuhause gefunden habe, aber es muß auch Menschen geben, die in Bielefeld leben. Und außerdem muß man ganz deutlich sagen, wenn alle Bielefelder nach Paderborn kommen würden, dann wäre es hier wahrscheinlich längst nicht mehr so schön.

(Sehr frei verfaßt nach dem „Hagakure“ von Tsunetomo Yamamoto)
 
 
© Erwin Grosche