Scherengehilfe oder Hilfsrichter?

Als Werkstudent im Blechwalzwerk (1953)

von Joachim Klinger
Scherengehilfe oder Hilfsrichter?
 
Als Werkstudent im Blechwalzwerk (1953)
 
Ein Bericht
 
1952 nahm ich das Studium der Rechtswissenschaften an der Universität in Münster auf. Meine Mutter bezog nach dem Tod meines Vaters im Jahr 1951 eine schmale Witwenpension. Also entschloß ich mich, in den Semesterferien zu arbeiten und meine Mutter finanziell zu entlasten. Mein Vater hatte einen Freund, der Werkmeister bei der Dortmund-Hörder Hüttenunion (DHHU) war, Heinrich Schulte, ein wortkarger, aber herzensguter Mann. Er verschaffte mir einen Termin bei der DHHU. Damals wurden Arbeiter, auch Hilfskräfte, gesucht. Der Werksarzt hielt mich für kräftig genug, Schwerstarbeit zu leisten, obwohl ich ein „magerer Hering“ war. Im Personalbüro füllte man ein Formular aus, Stempel, Unterschrift. Das war es! Frühschicht ab morgen im Blechwalzwerk Hörde, Eingang bei der „Burg“. Dort war Heinrich Schulte tätig.
 
Frühschicht - das hieß um 6 Uhr früh Arbeitsbeginn. Jeder Arbeiter mußte eine Karte in den Schlitz unter der Stechuhr schieben, sich dann umkleiden (in den „Blauen“ schlüpfen) und hin zur Arbeitsstelle. Alle eilten an ihren Platz, nur ich stand unschlüssig da. Aber Heinrich Schulte tauchte rechtzeitig auf und veranlaßte mich mit einer Handbewegung, ihm zu folgen. Er führte mich an den Teerkochern vorbei in die große Halle des Blechwalzwerks. Ohrenbetäubender Lärm! Hier konnte man sich nur mit Gesten verständigen oder es mit Brüllen versuchen. Mächtige Kräne transportierten Eisenblechstapel. Auf Fließbändern mit Rollen schoben sich Bleche zu Arbeitergruppen, die sich ihrer mit langen Zangen annahmen. Eine mir fremde Welt. Vor einer Maschine stand ein kleiner Mann im Arbeitsanzug, die Mütze tief in die Stirn gezogen. Heinrich Schulte ging auf ihn zu, gab ihm die Hand und sprach ins Ohr: „Das ist Joachim Klinger, ein Student. Sein Vater war mein Freund. Er soll dir hier an der Richtmaschine helfen. Kümmere dich
um ihn!“ Der Kleine nickte und reichte mir die Hand, die sich wie ein Reibeisen anfühlte. Heinrich Schulte wandte sich mir zu: „Das ist Karl Schwoche mit seiner Richtmaschine. Der sagt dir, was du zu tun hast. Mach's gut!“ Weg war er!
 
Das war also eine Richtmaschine. Zwischen die großen Walzen schob man die heißen und krummen Bleche, bis sie gerade waren. An den Händen trug man dicke Lederlappen zum Schutz. Sie hatten am oberen Rand eine Öffnung, durch die man die Hand führte. Bis zum Handgelenk, wo sie „einrasteten“. Arbeitsgeräte waren lange und große Zangen, mit denen man die schweren Bleche griff und in die gewünschte Richtung zerrte. Karl Schwoche gab mir den Tip, einen starken Metallring über die Zangenschenkel gleiten zu lassen, bis er fest saß. Das erleichteterte die Arbeit. Man mußte die Zangenschenkel dann nicht ständig beim Bewegen der Bleche mit den Händen drücken. Da der Arbeitsanfall groß war, kam uns noch ein kleiner, drahtiger Arbeiter zu Hilfe. Er hatte einen Sprachfehler und brüllte mir unverständliche Kommandos zu, wenn die Maschine in Schwierigkeiten geriet. Ich hätte nicht gedacht, daß Maschinen schreien können. Unsere Richtmaschine kreischte wie ein hysterisches Mädchen, wenn die Walzen nicht richtig eingestellt waren und die Annahme der Bleche verweigerten.
 
In den nächsten Tagen gesellte sich noch ein langer Kerl mit krummer Nase zu uns. Er hieß Wilhelm Schneider und wurde ständig von Kollegen gehänselt. Er sah nicht nur wie eine Karikatur aus Witzblättern aus, er benahm sich auch unbeholfen. Immerhin, es gab zu lachen. Als ich mich als ein „Kollege“ fühlen durfte, zeichnete ich mit dem Pinsel und weißer Farbe, die für die Bezeichnung der Bleche mit Buchstaben und Nummern gedacht waren, Schneiders Konterfei auf ein Blech und schob es zwischen die Walzen. Auf der anderen Seite der Maschine stand Wilhelm Schneider zur Abnahme des Blechs bereit und bestaunte sein Portrait. Lachen auf beiden Seiten! In den Arbeitspausen kam es zu Gesprächen über alles, was uns bewegte. Am Anfang wurde ich ausgeforscht. „Auf was studierst du denn?“ Rechtswissenschaften - und was wird man nach Abschluß des Studiums? Ich sagte: „Richter.“ Rechtsanwälte galten als gerissene Rechtsverdreher, und Staatsanwälte waren ebenso unbeliebt wie die Polizei. Trotzdem, das kam schlecht an. Karl Schwoche sagte kurz: „Was die Richter sind, alles Faschisten!“ Später erfuhr ich, daß er als bekennender Kommunist im Dritten Reich „gesessen“ hatte. Freundlich aufgenommen wurde mein Hinweis, Vater und Großvater Siewers seien Lehrer gewesen. Beide
schienen recht beliebt gewesen zu sein. Mein Großvater als Dirigent bei Gesangvereinen hatte die Sangeslust der Arbeiter gefördert. Mein Vater war auch wegen seiner Aktivitäten beim Sport, z.B. als Punktrichter bei Amateur-Boxkämpfen, bekannt.
 
Die Arbeit war anstrengend und forderte mich sehr. Zu Anfang war sogar das ständige Stehen eine Strapaze. Ein wichtiger Vorteil war, daß ich nur zur Frühschicht eingesetzt wurde, also von 6 bis 14 Uhr. Der ständige Wechsel mit Spätschicht und Nachtschicht hätte mich wohl übermäßig beansprucht. Meister Heinrich Schulte hingegen arbeitete im Turnus der drei Schichten. Das hieß, er konnte nur alle drei Wochen ein Auge auf mich haben. Die beiden anderen Werkmeister kannten mich nicht und wußten nur, daß ich als Werkstudent eingestellt worden war.
Der eine hatte kein Interesse an mir, der andere - mit einem Mopsgesicht - nahm mich öfter ins Visier und deutete mir mit den Händen an, doch einmal mitzukommen. Er wollte mir wohl zeigen, was in einem Blechwalzwerk alles vor sich geht. Einmal holte er mich zu einer „Rettungsaktion“. Ein glühendes Blech war nach dem Ausstoß aus dem Ofen von der Bahn abgekommen und mußte auf einen Rollgangwagen gezogen werden. Wir machten uns mit den Zangen ans Werk, etwa zwölf Männer. Der Meister kommandierte „Hau ruck! Hau ruck!“, und wir packten mit unseren Zangen zu. Eine Hitzewelle ging über mein Gesicht. Meine Augenbrauen waren hinterher versengt. „Geh mal zum Klo!“, sagte Karl Schwoche, als ich zu unserer Richtmaschine zurückkam. Das war gut gemeint, aber ... Es gab einen riesigen Waschraum, wo man sich nach der Schicht einseifte und wusch. lm Anschluß daran war eine Toilettenzeile mit ca. zwölf „Sitzplätzen“. Sie waren offen, Türen fehlten absichtlich, damit die Kontrolle erleichtert wurde. Hier konnte sich niemand verbergen. Aber „Sitzplätze“, das war der reinste Hohn, denn die Trichter waren abgeschrägt. Man konnte sich also zum „großen Geschäft" nur kurz hinhocken. Ein Nickerchen machen oder gar die Zeitung lesen - das war ausgeschlossen. Immerhin war es ziemlich still in diesen Räumlichkeiten Nun war ich also „Scherengehilfe“. Das hatte mir ein Arbeitskollege gesagt. „Is die amtliche Bezeichnung“, fügte er hinzu. „Kannst dich aber auch „Hilfsrichter“ nennen“, lachte er, „bist ja immer an der Richtmaschine. Paßt vielleicht besser zu deinem Studium!“
 
Die Arbeit im Blechwalzwerk war auch gefährlich. Die Bleche hatten spitze Ecken und scharfe Kanten. Wenn ein Stapel ins Rutschen kam, dann mußte man sich schleunigst davonmachen. Ich habe gesehen, daß mancher schwerfällige Kerl wie ein Häschen hüpfte, um sich in Sicherheit zu bringen. Besonders gefährlich war es, wenn ein Kran, der Bleche hob, versagte. Ich habe es einmal erlebt. Ein Blechstapel befand sich bereits in beachtlicher Höhe, als der Kran plötzlich losließ. Manche Kräne arbeiteten mit großen Magneten, andere mit zangenartigen Greifern. Die freigewordenen Bleche fielen keineswegs senkrecht zur Erde. Vielmehr verteilten sie sich nach allen Seiten wie Spielkarten, die in die Luft geschleudert werden. Schutz gab es da nur unter oder hinter großen Maschinen. Karl Schwoche sagte mir nach diesem Ereignis, das zum Glück keine Verletzungen hervorrief, das komme immer wieder vor. Vor etwa einem Monat sei dabei ein Kollege getötet worden und ein anderer habe ein Bein verloren. Dann hob er seine rechte Hand empor. Zwei Finger hatte es erwischt, als ein Blech sich aus einem Stapel löste und auf den Boden fiel. Zwei Finger waren nun nur noch kurze Stummel. „Sechseinhalb Finger - das ist hier der Durchschnitt“, sagte Karl Schwoche, „zu viele Unfälle bei dieser Arbeit!“ Ich war nun noch vorsichtiger als zuvor, aber ganz „ungeschoren“ kam auch ich nicht davon. Wie das passiert ist und passieren konnte, weiß ich nicht. Jedenfalls traf ein Blech mit scharfer Spitze rechts den ungeschützten Handrücken. Das Blut spritzte, ein Sanitäter eilte herbei und brachte einen notdürftigen Verband an. Dann mit dem Unfallwagen zum Dortmund-Hörder Hüttenhospital am Marksbach. Pflegepersonal und ein Arzt waren sofort zur Stelle. Der junge Arzt, der die Wunde untersuchte und dann die Wundränder zusammenfaßte sagte beim Nähen: „Sie haben Glück, daß Sie an den besten Chirurgen hier vor Ort geraten sind. Die beiden mittleren Finger bleiben Ihnen erhalten. Später wird man nur noch eine feine Narbe sehen.“ Dann fragte er: „Was wollen Sie denn mal werden?“ Ich antwortete etwas vage: „Jurist“ „Na sehen Sie“, lachte der Arzt, „das würde ja wohl komisch aussehen, wenn Sie als plädierender Anwalt die Rechte emporrecken und nur noch den Daumen und zwei Finger haben!“ Danach wurde die dick angeschwollene Hand kunstgerecht verbunden, und ich fuhr zurück in den Betrieb. Es mußte eine Unfallanzeige aufgenommen werden. Zum Schluß fragte der Mann im Büro streng: „Wo ist denn das Handleder geblieben?“ Ich wußte es nicht.
 
Zum Glück wurde ich nicht krankgeschrieben und nach Hause geschickt. Vermutlich hat der gute Heinrich Schulte gesagt, er könne mich trotz meiner Behinderung durch den Unfall für kleinere Arbeiten gebrauchen. So wurde ich als „Saubermann“ eingesetzt, fettete hier ein Gewinde ein, rieb dort an Rostflecken und fegte Metallspäne zusammen. „Du hast Schwein gehabt.“ meinte Karl Schwoche und zeigte auf meine verbundene Hand. „Den verlorenen Lederlappen habe ich zurückgegeben“, lächelte er und zwinkerte mit einem Augenlid, „ich habe für solche Fälle immer eine stille Reserve, kenne ja die Bürohengste und Pfennigfuchser.“ Meine Reinigungsarbeit ließ mir mehr Zeit für Beobachtungen. Ab und zu tauchte ein Ingenieur auf und unterhielt sich mit Arbeitern. Einmal erschien sogar der Betriebschef - wie mir ein Kollege zuflüsterte - und schritt wie ein Feldherr an seinen Mannen vorbei. Ein alter Mann fiel mir auf, der oft eine ganze Weile in der Nähe einer bestimmten Maschine saß und sie betrachtete. „Der ist längst in Rente“, sagte man mir, „kommt aber ab und zu, um zu sehen, ob seine Maschine in Ordnung ist.“ Als die Arbeiter eine Pause machten, sah ich, wie der Alte zu seiner Maschine ging und hier und dort mit einem Lappen rieb. Ich glaube, er hat sie ein bißchen gestreichelt.
 
Die letzten vierzehn Tage vergingen rasch. Der Schichtmeister mit dem Mopsgesicht verabschiedete mich mit einem Nicken. Bei meinen Arbeitskollegen dauerte es etwas länger. „Vergiß die kleinen Leute nicht“, sagte Karl Schwoche und nahm die Mütze von den schweißverklebten Haaren. „Wenn du da oben bist“, er wies mit dem Daumen der rechten Hand empor. „Im Himmel?“ fragte ich dümmlich. „Quatsch“, sagte er, „bei Gericht natürlich.“ „Ich glaube nicht, daß du Richter wirst“, grinste Wilhelm Schneider. „Wieso nicht?“ fragte ich überrascht. „Bist nicht streng genug“, erklärte mein Arbeitskollege. Wir konnten nicht mit Bierflaschen anstoßen. Alkoholgenuß am Arbeitsplatz war verboten. Nach der Schicht noch in die Kneipe gehen, kam auch nicht in Betracht. Alle wollten nach Hause. So blieb es beim Händeschütteln, Schulterklopfen und aufmunternden Worten. Am Abend traf ich meinen Schulfreund Willi. „Wie war`s?“ fragte er. „Gut“, sagte ich. „Und die Löhnung?“ „Eintausendundfünfzig Mark für drei Monate!“ „Das ist 'ne Menge Kohle!“ meinte Willi. Heinrich Schulte begegnete mir in der Nähe der Wohnung, eine abgewetzte braune Ledertasche unter dem Arm. Er deutete auf meine verletzte rechte Hand. Der Verband war ab, über den Handrücken hatte man ein großes Pflaster geklebt. „Schon viel besser“, sagte ich. Er musterte mich freundlich und sagte: „Du hast zugelegt.“ Damit meinte er, daß die Muskulatur kräftiger und der Brustkorb breiter geworden war. Meinen Dank konnte ich nicht mehr anbringen. Er hatte es eilig.
 

© Text und Illustrationen Joachim Klinger 2019