Der alte Mann und eine grundsätzliche Entscheidung
Der alte Mann ging mit seinem Hund spazieren. Es war noch früh am Morgen und erste Sonnenstrahlen führten ihn auf seinem Weg. Der Sommer verabschiedete sich mit zarten Worten. „Du bist Gottes Liebling“, flüsterte der Himmel. Das hört man gern. Der Monte Scherbelino war eingetaucht in warmes Herbstlicht und alles, was sich sehen ließ, war so nahe. Selbst die sich quälenden Jogger in ihren häßlichen Trainingsanzügen lachten, wenn man sie grüßte. Alle Frühaufsteher suchten Trost in den Augen der anderen.
„Danke“, murmelte der alte Mann und setzte seine Sonnenbrille auf.
„Libori“, Paderborns großes Volksfest war gerade drei Wochen vorbei und trotzdem schien die Stadt noch so erschöpft und in sich gekehrt, als hätten alle so ausgiebig gefeiert, daß sie nun für Wochen kein „Papp“ mehr sagen wollten. In der Stadt fand man wieder Parkplätze, die Restaurants waren leer und Small Talk auf den Wegen wurde abgeschmettert mit einem katholischen Nicken. Selbst die Politiker kümmerten sich in dieser Zeit um ihre Bienenzucht, spielten Fußball, und taten nichts - was der Stadt am besten bekam. „Libori nimmt das Licht“, sagte man hier, aber das Scheiden der Sommerträume wurde auch immer begleitet von einer tiefen Melancholie, die vorwärmte für kalte Wintertage und das Herz einbettete in kindliche Glückseligkeiten. Der alte Mann schaute auf seinen kleinen Hund, der in diesem Abschiedslicht wie aus einem Traum gesprungen schien. „Du bist mein Herbsthund“, sagte der alte Mann, und Frieden überkam ihn, als er ihn hinter den Ohren kraulte.
Er mußte noch Hundefutter kaufen, und nachdem der Hund wieder zu Hause auf seinem Kissen lag, machte er sich auf, um in die Stadt zu gehen. Wenn man es schaffte, vor 10.00 Uhr im SÜDRING zu sein, dann war selbst dieser große Supersupermarkt noch leer und man sah gähnende Verkäuferinnen, die vor sich hinstarrten und Kaffee in kleinen Schlückchen tranken.
Der alte Mann fand neben vielem Ungeplanten sofort das Lieblingsfutter seines Hundes und eilte zur Kasse, an der schon einige andere frühe Kunden warteten. Natürlich hatte er doch mehr eingekauft, als er wollte, und er fragte sich, wann er jemals alle diese Fischkonserven aufessen würde, die er wieder in den Einkaufswagen gepfeffert hatte. Wenn es mal eine Zeit geben würde, in der die Meere ohne Fische wären, hätte er auf jeden Fall seine Speisekammer damit gefüllt. Um ihn herum im Laden waren nur alten Menschen zu sehen, als wäre die Zeit von vor 10.00 Uhr nur dieser Bevölkerungsgruppe vorbehalten. Auch an der Kasse standen vier Frauen und drei Männer mit schneeweißen Haaren, von denen immer die vordersten zwei ihre Waren auf das Band legen konnten. Der alte Mann hatte gerade den Warentrenner hinter seine Einkäufe aufs Band gelegt, als er auch schon an der Reihe war.
„Lassen Sie mich vor?“, fragte plötzlich eine alte Frau, die von der anderen Seite in den Kassengang geschossen kam. „Ich wollte mir nur eine Plastiktüte kaufen.“
Der alte Mann schaute sich um. Er wäre doch gerade dran gekommen, da mußte er sich erstmal sammeln. Das hört sich immer so an, als ob der Kauf einer Plastiktüte so schnell gehen würde, aber auch die mußte gescannt werden, und wenn man das Geld nicht passend hatte, dann konnte sich das schon hinziehen. Es wußte auch, daß Frauen, die so die Reihenfolge der Einkaufenden durcheinander brachten, es immer verstanden, für alles mehr Zeit zu brauchen als andere Anstehende. Der alte Mann schaute hinter sich. Da standen alle und wußten nicht, welch schwere Entscheidung er zu treffen hatte. Im Grunde würde sein Einknicken auch die Wartezeit der anderen verlängern. und deswegen müßten sie alle in den Entscheidungsprozeß einbezogen werden. Er sollte sich umdrehen und fragen: „Wie sieht es aus? Spricht irgendwas dagegen, diese Frau vorzulassen?“ Eigentlich müßte auch bedacht werden, daß sich die Vordränglerin eine Plastiktüte kaufen wollte und man dies in dieser Zeit, in der die Meere schon voller Plastiktüten sind, nicht unterstützen sollte. Dieses alles ging dem alten Mann durch den Kopf, bis er schließlich sagte: „Natürlich. Ich lasse sie gerne vor.“
© Erwin Grosche 2019
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