Parmesanides

von Wendelin Haverkamp

Wendelin Haverkamp - Foto © Manfred Zehner
Parmesanides
 
Gleich, wo man hinhört, alle klagen: Ich hab keine Zeit. Ein völlig falscher Ansatz; denn wie sollte man? Und auch auf die Gefahr hin, daß Sie jetzt ein bißchen verblüfft sind im ersten Augenblick, aber das alles kommt von dieser, Vorsicht jetzt, „Zeit-Dilatatation“ - vielleicht haben Sie da schon mal von gehört?
   Nicht. Das Problem ist in der Tat, daß die meisten, auch wenn sie es gerne abstreiten, in Wirklichkeit Zeit gewinnen wollen; worauf sie sich lange den Kopf zerbrechen müssen, Wozu, was ein Mehrfaches der gewonnenen Zeit kostet, verbunden mit dem unangenehmen Gefühl der eigenen Vergänglichkeit.
   Das ist sozusagen der Trick vom Ganzen: Wenn, dann muß man Zeit so sparen, daß keine übrig bleibt. Denn keine Zeit, die gibt es nicht. Keine Zeit existiert nicht, sagt schon Parmesanides, der berühmte altgriechische Hartkäse-Philosoph, ich weiß nicht, ob Sie den jetzt kennen?
   Auch nicht. Ein ganz geriebener Junge. Stammte ursprünglich aus der Schule von Hämorid, das waren diese Philosophen, die immer so unruhig um die Säulen rumgegangen sind, Reibung ist eben manchmal auch nur Glückssache. Und laut Parmesanides gibt es genau genommen überhaupt keinen, der keine Zeit überhaupt haben könnte.
   Keine Wohnung kann jeder haben. Keine Arbeit können 6 Millionen haben, kein Problem, aber keine Zeit? Kann keiner haben, und schon ist man reif für die Zeitdilatatation und die Renaissance des Parmesanides.
   Apropos Dilatatation: Der Einstein, den kennen Sie jetzt aber, der mit dem einen, genau. Der war der Sache schon auf der Spur mit seiner Relativititätstheorie, und da kam unterm Strich eben eine ziemliche Zeitdilatatation bei raus. Da hieß es eben nicht heute hier, morgen dort, sondern: Heute hier, morgen hier, gleichzeitig aber gestern schon dort durchgekommen.
   Ja, das sind schwierige Zusammenhänge, aber ich erklär´s Ihnen gerne. Als erstes sollten wir das Wort „Zeitdilatatation“ im Selbstversuch prüfen. Sprechen Sie leise in sich hinein: „Zeit-dila-ta-ta-ta-tion“.
   Sehr gut. Merken Sie was? Bereits nach dem ersten „tat“ wird man ganz unsicher und fragt sich: Wie weit bin ich jetzt eigentlich gekommen? Bis „tat“ oder bis „tatat“? Weshalb man lieber noch ein „tat“ dazu tut, weiß aber immer noch nicht genau, wo man dran ist.
Das immer so weiter, und so, kleine Randbemerkung aus meinen ethymolologischen Forschungen, entstehen diese vielen langen Begriffe in den Wissenschaften: Das ist keine böse Absicht, die wissen einfach nur nicht mehr, wo sie dran sind.
   So auch in der Relativititätstheorie. Nehmen wir mal ein Beispiel, das soll ja gerne hilfreich sein: Jürgen Hingsen, Sie erinnern sich, Zehnkämpfer, genau, der Deutsche mit dem schönsten Fehlstart, der schon vor Jahren so aussah wie chinesische Kugelstoßerinnen heute, was auch so´n Punkt ist, aber das würde jetzt zu weit führen.
   Dieser Hingsen - das ist nämlich relativ unbekannt - hat schon als Student der Leichtathletik intensiv bei Versuchen in der Ohrenforschung mitgearbeitet und dabei so hart trainiert, daß er einen Startschuß schon hören konnte, noch bevor der gefallen war.
   Nur das Problem war: Es glaubte ihm keiner, weil die Leute meinten, das wäre relativ, und zwar unwahrscheinlich. Und so entstand, jetzt werden die Zusammenhänge klar, die Legitimatatationskrise der Neuzeit. Hat Max Horkheimer schon vor zig Jahren gesagt, der war mal Trainer in Frankfurt. Die hatten damals `ne starke Mannschaft, mit dem wären die auch nie abgestiegen.
   Wie ich immer sage: Im Alltag leben die großen Wunder ungestört weiter. So auch die sogenannte Zeitdilatatatation, die ungeheuer schwer nachzuweisen ist, weil sie meist völlig geräusch- und geruchsfrei daherkommt, wenn man von der Quantenhypothese absieht. Da ging es ja um den Versuch, aus der Schuhgröße Newtons die Äquivalenz von Masse und Energie zu berechnen. Was aber fehlschlug, weil man nur heraus bekam, daß kleine Füße auch nicht besser riechen als große, weshalb sich Einstein unverzüglich der Bewegung von Teilchen zuwandte.
   Na! Also, das kennen Sie jetzt doch bestimmt aus dem Alltag: Sonntagnachmittag. Kaffeezeit. Keiner bewegt sich, aber die Teilchen rasen über den Kaffeetisch und sind im Nu verschwunden. Hab ich doch gewußt.
   Oder mal ein anderes Beispiel. Während Ihre Bank spart, sagen wir eine Sekunde pro Kunde, brauchen die Kunden Stunden, um ihre Geheimzahl irgendwo in einem alten z.B. Kochbuch zu verstecken, und Tage, um sie dort wiederzufinden und den z.B. 18prozentigen Dispokredit voll auszuschöpfen, um ein bißchen was z.B. Leckeres zu essen z.B. zu kaufen zu gehen.
Effekt: Unterm Strich viel Zeit gespart. Es sei denn, Sie können sich Zeit leisten! Dann sieht die Sache anders aus, denn wenn man sich Zeit leisten kann, macht Zeit natürlich Spaß. Ich meine, sich mal wirklich wieder hinstellen und Zwiebeln schälen, wunderbar!
   Und zwar Schalotten, nicht die riesigen spanischen Gemüsezwiebeln, da ist man ja mit fertig, bevor man richtig geweint hat. Und außerdem sind Schalotten viel würziger und dichter im Geschmack; Schalotten dicht, hieß es ja früher schon.
   Und jetzt passiert Folgendes: Wenn Ihre Gäste schon ungeduldig mit dem Glase Champenoise in der Küche stehen und mit den Hufen scharren, dann muß man überhaupt erst anfangen, in aller Ruhe Schalotten in milligemeterte Schalottenschnipsel zu zerlegen, als ob man vorhätte, die medizinische Sekundärliteratur um ein Standardwerk über die Autopsie der Zwiebel zu erweitern. Sowas können sich natürlich nur Menschen leisten, die bis Frühjahr 3003 terminlich zu sind.
   Kein Streß mehr mit carpe Diem, vergiß es, den hat man sowieso längst erschossen, alles Käse, alles Parmesanides, Schluß aus, Punkt um. Bleibt die Frage, Wann die Zeit um ist - Wann es Zeit ist, sozusagen. Ich meine nicht, wenn der Ober im „Grünen Heinrich“ um zwei an der Tür steht, mit dem Autoschlüssel rappelt und ruft: „Kommen Sie endlich, es wird Zeit!“
   Das meine ich natürlich nicht, auch wenn es sicher etwas Wunderbares hat, wenn es Zeit wird; keine Frage. Oder wenn ein Reporter olympisch durch die Röhre schreit: „100 Meter in 10 Sekunden, eine gute Zeit!“ Das meine ich natürlich auch nicht. Nein, ich meine, wenn ich mal persönlich werden darf, und da können Sie ja im Moment auch schwer was gegen machen: Manchmal träume ich, ich stände auf einer Bühne, und plötzlich fällt mir die Lösung aller Probleme ein, und ich sage: „Meine Damen und Herren, mir ist soeben die Lösung aller Probleme eingefallen wenn Sie einen Moment Zeit hätten, dann erklär ich`s Ihnen!“
   Und dann falle ich um und bin tot. Und dann werd“ ich wach. Dann war's nämlich höchste Zeit.
 
 
Aus dem Buch „Parmesanides“, Aachen 2003