Die deutsche Einheit aus der Sicht des DNA

Eine Sottise

von Horst Wolf Müller

Foto © Deutsches Institut für Normung
Die deutsche Einheit aus der Sicht des DNA

Sehr verehrte Vertreter des Handwerks, der Industrie, verehrte Gäste aus den Geisteswissenschaften, liebe Wanderarbeiter des BRH und des BPA!

Wem immer ich heute mit meinen Ausführungen aus dem Herzen spre­chen mag: er freut sich zu früh. Denn der Normierungsprozeß, dem das letzte Jahrzehnt dieses Jahrhunderts, Rhetoriker würden sagen, dieses Jahrtausends, unterliegt, wird nicht nur Länder, Belegschaften, Abteilungen und Gruppen erfassen und zusammen­fassen, nein, er wird auch um den einzelnen einen Cordon egali­taire legen, der es ihm erlaubt, jedweden Individualismus als eine aufwendige, aber nutzlose Kostümierung zu betrachten und im Pfandhaus des 20. Jahrhunderts schleunigst abzugeben. (Es wird hinfort die Formel Schumachers gelten: small is' beautiful. Und die neue Formel: Test the West).
Wenn ganze Weltteile es nicht mehr für nötig erachten, sich
dialektisch voneinander wegzuentwickeln und damit auf eine hö­here Stufe ihrer real existierenden Inkompetenz zu klettern, wenn ganze Völker durch Lösen einer Eintrittskarte in ein ande­res Gesellschaftssystem eintreten können wie in einen Anglerverein (Petri heil!), wenn Unzufriedene aus aller Welt sich wie Meteoriten in dieses System einfliegen lassen, um dort sub­ventionierter Akklimatisation und Akkulturation nachzugehen, warum sollte dann das werktätige Individuum, also Sie, in sei­nem Homeland von der normierenden Kraft des Faktischen, sprich DIN, Deutsche Industrie Norm, unangetastet bleiben wollen und dürfen ?
Das Weltall mag ja auseinanderfliegen, wie uns die Physiker
glaubhaft versichern, Planeten und Sonnen treibt es mit großer Kraft auseinander, aber, meine Damen und Herren, Sie kön­nen versichert sein, die Völker der Erde treibt es und wird es mit zunehmender Härte des Euro zur Einheit treiben, und zwar zur deutschen Einheit. Deutsch sein wollen wird eines Tages nichts anderes heißen, als Euro in den Taschen (und viel­leicht auch in den Knochen) und die Sozialversicherung im Rücken zu haben. Am Ende der Geschichte wird der Euro, und zwar der deutsche,  stehen und damit die Deutsche Industrienorm.

DIN A 4 - welch ein magisches Wort!

Heiratsurkunden, Taufscheine, Testamente, Zahnarztrechnungen, ja selbst die begehrten Gehaltsbescheinigungen sind häufig in
diesem Formate abgefaßt. Und natürlich auch die Versetzungs­urkunden.
Wer jene will, muß auch die anderen in Kauf nehmen.
Und Hand aufs Herz: wer wird sich denn vor der Einheitsnorm fürchten? Selbst diese Hand hier ist genormt. Sie paßt so gut wie immer vor den Mund. Warum also Angst vor der Einheit der Arbeit. Wer die Einheit will und danach gerufen hat, der muß auch die Einheit der Arbeit wollen.
Jeder macht alles, heißt heute noch die Losung der Wanderar­beiter, aber doch nur vorübergehend. Zur Belohnung wird er Privatpatient, das heißt, er zahlt alles. Heute heißt das: jeder macht vielerlei, aber wo alles zusammenstrebt zur Einheit, wird es dieses Vielerlei nicht ewig geben. Sowie es die Inter­views mit Gregor Gysi oder mit ostelbischen Grünen nicht immer geben wird. Denn die Elbe ist ebenso breit wie die 5-Prozent­hürde hoch ist.
Und wenn das politische Leben einfacher wird, dürfen es auch die Medien werden, klingt das nicht einleuchtend ? Wozu denn dann noch Pressevielfalt ? Die elektronischen Medien werden zwar noch zahlreicher, die Vielfalt der Antennen auf unseren
Dächern wächst, aber die Botschaften werden einheitlicher. Und einfacher, verständlicher. Warum sollten wir uns darüber nicht freuen ? Wir vom DNA jedenfalls tun es.
War es früher noch so, daß zwei Fernsehsender in unserem Lande
es fertigbrachten, ein ganzes Spektrum von Meinungen und Utopien vorzutäuschen (denn mehr war es unserer Ansicht nach nicht), so haben wir heute den Zustand, daß mehr als 20 Sender nicht mehr in der Lage sind, zu verschleiern, daß es all diese Mei­nungen und Utopien gar nicht mehr gibt. Dieses Volk ist eben politisch wunschlos. Und es ist wunschlos, weil es glücklich ist.

Die deutsche Einheit wird im Jahre 2000 - so hofft der Deutsche Normenkontrollrat inbrünstig, auch eine Einheit der Meinung sein. Meinungsforschungsinstitute (die dann überflüssig sein werden) haben für das Jahr 1990 noch einen gesamteuropäischen Index von 2,44 Meinungen pbV (pro befreites Volk) errechnet, wobei ausge­rechnet die osteuropäischen Völker, voran Ungarn, mit 2,98 Mei­nungen an der Spitze liegen. Doch dies wird sich in der kommen­den Dekade ändern.
Ändern wird sich auch die Rolle der Information. Rundfunkauswer­ter und Kommentarübersichten wird es im Jahre 2000 wahrschein­lich nicht mehr geben. Durch die gewachsene und weiter wachsende Selbstkritik des Politikers wird dann der Rückkopplungseffekt zwischen geäußerter und konsumierter Meinung so stark sein, daß kein Politiker mehr wird lesen wollen, was er am Vortage geäußert hat oder am kommenden Tage äußern wird (Ghostwriting). Alle dann noch nicht in den Ruhestand versetzten Rundfunkauswer­ter und Ghostwriter werden zu Statistikern umgeschult sein, die mit Hilfe von Computer-Simulation herauszufinden versuchen, ob und wann in Deutschland wieder eine politische Alternative auftauchen wird. Diese Mitarbeiter werden nicht mehr in einer Nachrichtenabteilung organisiert sein. Sie werden als freie Heimarbeiter arbeiten und dem 400-Euro-Gesetz unterliegen. Sie werden zum Nebenerwerb verpflichtet sein und sich eine Kuh halten dürfen.
Das Bundes- Presseamt wird insofern eine genormte Einheit sein, als es
dann nur noch Informationen absondert, aber keine mehr speichert. Es wird also mehr Niere sein, während es heute noch mehr Leber ist. Es wird dann auch nicht mehr möglich sein, daß ein grüner Politiker zu einem Mitglied des Kabinetts in einem Gespräch über die Arbeit des Presseamtes die Bemerkung macht: Ihre Leber ist leicht vergrößert. Und das wird gut sein.
Ich danke Ihnen.

© Horst Wolf Müller - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2008