Das Horn von Nizza
In Nizza habe ich einen Freund namens Bob, der bläst im Sinfonieorchester Horn. Ja und, werden einige von Ihnen sofort einwenden und ansatzlos zurückgeben: Der Schwager meiner Schwester fährt auf dem Krankenhausparkplatz von Houston Texas Gleitschirmrennen. Und die Schwester meines Schwagers kandidiert in Neufundland als Miesmuschel für den Senat.
Aber so hab ich das gar nicht gemeint. Das ist ja schließlich nichts Besonderes: Warum soll am Kap Ferrat keiner Horn blasen, auch wenn andere Landspitzen sich auf den ersten Blick besser dazu eignen? Nur, schau´n Sie: Rachmaninoff in Kiel, da hätte ich ja nix gesagt. Aber Brahms in Nizza? Und dann auch noch Karfreitags? Karl Heinz Brahms mit seiner Todesschwadron: Ein Requiem, und ein deutsches natürlich.
Nun findet der Angang zur Musik ja in der Regel statt in einem großen Raum, in dem zum Zeichen, daß alles bereit ist, das Licht gedämpft wird. So auch in Nizza, Wo, wie gesagt, mein Freund Bob im Sinfonieorchester das Horn bläst: Auftritt!
Als erstes nehmen die Musiker lärmend Platz, dann folgt der Chor: Grob geschätzt 100 Damen und Herren tasten sich, streng in schwarz gekleidet, auf ihre Plätze, durch hohe Konzentration bereits jetzt stark mitgenommen. Blinde werden an der Hand geführt, der erste Tenor humpelt auf Krücken zu seinem Platz - Arbeitsunfall wahrscheinlich. Einmal falsch tremoliert beim Einsingen, einmal die Synkope falsch berechnet - da ist schnell was passiert. Ein deutsches Requiem eben. Und schon stürzt der Dirigent herein, kreist mit wehender Mähne um das Pult und schwingt mit jugendlichem Satz seine 1 Meter 60 aufs Podest, 1 Meter 60; irgendeinen Grund gibt es immer, Dirigent zu werden. Und jetzt könnte, jetzt müßte eigentlich Schluß sein. Denn bisher War die Aufführung fehlerfrei, tadellos, nicht zu übertreffen, Tempo, Klang, Dynamik, insoweit mitreißend, und das Wichtigste: Alle hatten was davon.
Doch die Menschen lernen nichts dazu, auch nicht in Nizza, wo mein Freund Bob im Sinfonieorchester Horn bläst. Denn was ist mit all den vielen Menschen im Saal, die unmusikalisch sind? Die durch abgetretene Abonnements, undurchdachte Eheschließungen, grundlose Anhänglichkeit oder andere anhängige Gründe, womöglich völlig frei von Schuld, aber an diesem Abend in diesen Raum geraten sind - die sind doch auch noch da?
Jetzt könnten sie noch gemeinsam mit uns applaudieren und den Saal zufrieden verlassen, ohne sich ausgeschlossen zu fühlen; noch sitzen wir in einem Boot, sind ein ganzes, unzerteiltes, gemeinsam empfindendes Publikum. Aber nein! Nichts da, keine Ausflüchte, voriges Mal auch: Kimme, Horn, ran! Ein deutsches Requiem.
Wie mag das sein, wenn man unmusikalisch ist? So hilflos dem kulturellen Ereignis ausgeliefert? Ob man wohl merkt, daß der eine Ton höher ist als der andere? Daß die Zahl der Töne pro Minute nichts mit dem Takt zu tun haben muß, ja daß ohne weiteres in einem Dreiviertel-Takt viel mehr Krach sein kann als in einem Vierviertel-Takt, und daß der Hupraum des Hornisten auch hierbei keine Rolle spielt?
Was mag man denken, wenn Geigenbögen wie abgesprochen hin und her fuchteln, Tröten an- und absetzen, Seiten grundlos aber gleichzeitig umgeblättert werden und hundert gemischte Südfranzosen lauthals schmettern: „Töd, wo isd dein Schdachäl?“
Gut, es ist auch schwierig. Nicht jeder kann wie Karl May, der deutsche Ritter, schnell mal eine Person erfinden, die das Problem mit einem kräftigen: „Hey old Death! Where is your Steckel?“ in einen anderen Erdteil transponiert, und fertig ist die Laube; Karl May! Der im Unterschied zu Kurdistan und Arizona seine Anwesenheit in Nizza nicht einmal versuchsweise vorgetäuscht hat, wo mein Freund Bob im Sinfonieorchester das Horn bläst.
Da fiel, in eben diesem Moment, zwei Reihen vor mir ein Nachwuchsfranzose, grob geschätzt fünf dreiviertel Jahre, zuckend in tiefen Schlaf und begann, lauthals zu schnarchen. Zu schnarchen! Schlafe mein Prinzchen bei Karl-Heinz-Brahms, deutsches Requiem, zivilisatorische Vorstufe zu Brehms Tierleben, wegweisend frühe Ankündigung von Broms Spätfolgen für den deutschen Harnsäurespiegel.
War dies die Vorstufe einer europäischen, wenn nicht weltbürgerlichen Lösung? Oder fiel da nur wieder das 19. Jahrhundert knarrend ins Pianissimo, wo immer eins übrig geblieben war, in Worten: Schläft der Franzose ein, wenn der Deutsche stirbt? Oder muß der Deutsche sterben, wenn Franzosen schnarchen? Was würde geschehen? Würde der deutsche Außenminister in noch nicht abzusehender Größenordnung Botschafter einbestellen lassen?
Und dann - ja, dann ging das Licht an, und alles war aus. Und ich war beruhigt, Weil: Warum soll das nicht auch woanders auf der Welt möglich sein, wenn's hier doch geht, in Nizza; wo mein Freund Bob im Sinfonieorchester Horn bläst.
Aus dem Buch „Parmesanides“, Aachen 2003
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