Fliegen im „Dornröschen“-Schloß

Ein apartes und attraktives Motiv in Grimms Märchen

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
 
Fliegen im „Dornröschen“-Schloß
 
Ein apartes und attraktives Motiv in Grimms Märchen
 
Von Heinz Rölleke
 
 
Bei ihrer Suche nach mündlich überlieferten Märchen befragten die Brüder Grimm in Kassel auch Marie Hassenpflug (geb. 1788). Sie hatte mütterlicherseits französische Vorfahren: Ihre Urgroßmutter aus Neuchatel war seit 1736 im französischen Viertel von Hanau ansässig. Bei ihr war die Mutter der Märchenerzählerin aufgewachsen und hatte in ihrer Kindheit (nur) französische Märchen gehört und gelesen, wie sie etwa Charles Perrault 1697 veröffentlicht hatte. Die Töchter Hassenpflug lebten also um 1808 schon in der dritten Generation in Hessen; ihre Mutter wird ihnen die ursprünglich französischsprachigen Märchen auf Deutsch erzählt haben, und sie erzählten diese Märchen, so weit sie sie behalten hatten, ihrerseits (wahrscheinlich in hessichem Dialekt) ab 1808 den Grimms weiter, darunter auch „Dornröschen“, das sie Maries Erzählung in der festen Überzeugung nachschrieben, es handle sich um ein „stockhessisches“ Märchen. Wenig später notierte Jaacob Grimm allerdings auf seiner Niederschrift: „Dies scheint ganz aus Perrault's Belle au bois dormant“. 1810 schickte man das Manuskript an Clemens Brentano. Die Geschichte war seit 1697 sehr verkürzt und mannigfach verändert in Deutschland tradiert worden, so daß die Grimm'sche Handschrift nur etwa ein Viertel der Perrault'schen Geschichte bietet. Sie endet mit dem Aufwachen Dornröschens und ihrer Hochzeit.
 
Sehr verändert sind die Szenen des Einschlafens und Aufwachens im königlichen Schloß:
 
            „Da stach sie sich in die Spindel und fiel alsbald in einen tiefen Schlaf. Da […] fing alles im Schloß an zu schlafen, bis auf die Fliegen an den Wänden.“ - „[...] und alle erwachte von dem Schlaf.“
 
Die Formulierung „bis auf“ ist wohl in- und nicht exklusiv gemeint ('einschließlich der Fliegen' und nicht 'außer den Fliegen'), denn erst nach dem Aufwachen krabbeln sie wieder weiter. Bei Perrault schlafen neben dem Hofstaat die Pferde in den Stallungen, die großen Hunde auf dem Schloßhof und das kleine Hündchen der Prinzessin ein – von „Fliegen an den Wänden“ ist keine Rede, so daß zu vermuten steht, sie seien erst im Verlauf der mündlichen Tradition im Hessischen eingeflogen (der königliche Hofdichter hätte solch lästige Insekten auch wohl kaum in dem von ihm 1697 geschilderten königlichen Schloß plaziert).
 
Als dir Brüder Grimm den ihnen 1808 zugekommenen kurzen Text für die Drucklegung bearbeiteten, hatten sie wohl bei Perrault nachgeschaut, denn die „Dornröschen“-Fassung, die 1812  - herausgehoben als Nr. 50 -  in den „Kinder- und Hausmärchen“ erschien, zeigt die Übernahme einiger zusätzlichen Motive:
 
            „[...] da fing alles an einzuschlafen, die Pferde in den Ställen, die Tauben auf dem Dach, die Hunde im Hof, die Fliegen an den Wänden.“
 
Auch das Feuer, der Koch, der Braten und die Magd schlafen ein. In der Erweckungsszene wachen nun entsprechend auf:
 
            „[...] die Pferde  und die Hunde und die Tauben auf dem Dach und die Fliegen an den Wänden und das Feuer […] der Koch […] der Braten [...] und die Magd [...].“
 
In den Drucktext trug Wilhelm Grimm einige handschriftliche Ergänzungen ausschließlich zu den beiden Szenen ein, u.a. sollte es nun heißen: „und die Fliegen an den Wänden krochen weiter.“
 
In der Zweitauflage von 1819 wurde die finale Szene anschaulich erweitert:
 
            „[...] die Pferde im Hof standen auf und rüttelten sich, die Jagdhunde sprangen und wedelten; die Tauben auf dem Dach zogen das Köpfchen unterm Flügel hervor, sahen umher und flogen ins Feld; die Fliegen an den Wänden krochen weiter; das Feuer […]; der Koch […]; der Braten [...] und die Magd […].“
 
Seine Ergänzungen gefielen Wilhelm Grimm so gut, daß er die finale Szene des „Dornröschen“ in allen weiteren Auflagen unverändert ließ; so wurde sie in dieser Gestalt durch die immer wieder nachgedruckte Ausgabe Letzter Hand von 1857 weltberühmt.
 
Die drei Passagen, in denen vom Einschlafen des Hofstaats, von der Szenerie, die der Prinz zunächst im Schloß erblickt, und vom Aufwachen die Rede ist, sind von Wilhelm Grimm auffällig ausgestaltet und in eine so meisterhafte Form gebracht, daß sie immer wieder neu illustriert werden und in ihrer Anschaulichkeit jedem Leser oder Hörer unvergeßlich bleiben.
 
Was war der Anlaß zur Gestaltung dieses wunderbaren Stücks deutscher Prosa? Perrault hatte die Szene des Erweckungskusses und die anschließenden Begebenheiten zwar diskret, aber doch sehr anspielungsreich vorgestellt. Zum Beispiel schließt er mit der Andeutung der Freuden einer offenbar weitgehend durchwachten Hochzeitsnacht:
 
            „Sie schliefen allerdings nicht viel; denn die Prinzessin bedurfte dessen [nach 100-jährigem Schlaf!] nicht so sehr, und der Prinz --- verließ sie schon am Morgen.“
 
Das entsprach nicht den Grimm'schen Vorstellungen von einem schlichten und jugendfreien Volksmärchen. So wurde der Lichtkegel der Aufmerksamkeit vom nur noch knapp angedeuteten Rendezvous des Prinzen mit der soeben im Bett ihres Schlafgemachs erwachten Prinzessin sofort auf die nun ausführlichst ausgestaltete Aufwachszene des ganzen Schlosses gelenkt  -  von der chambre à coucher in den cour du château.
 
Eigentlich hat Wilhelm Grimm nur ein Surrogat für die Kernszene der „Dornröschen“-Geschichte schaffen wollen. Das ist ihm aber in den drei entsprechenden Passagen derart attraktiv gelungen, daß die Bilder von den nach hundert Jahren mit den für sie typischen Verhaltensweisen  erwachenden Tieren,  vom Koch, der seine Ohrfeige beim Wiedererwachen endlich anbringen kann, oder von der Magd die beim Rupfen des Huhns vom magischen Schlaf unterbrochen wurde und nun nach einem Saeculum ihre Arbeit endlich vollendet, daß diese Bilder sich vielen Menschen unvergeßlich eingeprägt haben.
 
Dafür nur zwei Beispiele. Als Johannes Brahms 1858 Lieder für die Kinder von Clara und Robert Schumann komponierte, schuf er als Nr. 1 eine Vertonung mit dem Titel „Dornröschen“; den Text entnahm er der Volksliedersammlung von Kretschmer/Zuccalmaglio, die 1840 erschienen war :
 
                        Im tiefen Wald im Dornenhag,
                        da schläft die Jungfrau hundert Jahr,
                        es schläft die Flieg' an der Wand,
                        in dem Schloß
                        Hund und Roß,
                        es schläft wohl auf dem Herd der Brand.
 
                        […]
                        die Flieg' erwachet an der Wand,
                        in dem Schloß
                        Hund und Roß,
                        auf dem Herd erwacht der Feuerbrand.
 
Brahms  - oder wer immer den Text schrieb -  lenkt die Aufmerksamkeit auf die Tiere, die einschlafen und wieder erwachen, wobei Dornröschen fast in den Hintergrund gedrängt wird. Es ist eher nebenbei von der „schlafenden Braut“ die Rede: „Da wacht das schöne Mägdelein.“
 
Die Fliegen insbesondere haben es auch Wilhelm Raabe angetan. In seinem letzten Werk, dem teils autobiographisch gefärbten Roman „Altershausen“, erinnert sich der 70-jährige Geheimrat Feyerabend an seine Kinderfrau Ritterbusch, die ihn einst mit etwas freiem Erzählen Grimm'scher Märchen vergeblich zum Einschlafen bringen wollte (VII. Kapitel):
 
            „'[...] und sie sahen einander mit großen Augen an … Junge, schlaf ein! … Es wachte alles auf, was die hundert Jahre geschlafen hatte da im Schlosse - […] und der Koch gab dem Küchenjungen die Ohrfeige, die er ihm eben auch vor hundert Jahren versprochen hatte. […] die Magd sagte: Ja, Koch, grade so was hat auch so'n böser Junge verdient, wenn er mich hier bis an den hellen, lichten Morgen sitzen und verzählen lassen will!-?' […] 'Nein, das hat sie nicht gesagt, die Küchenmagd, Ritterbuschen! Und dann sind auch immer die Fliegen dabei, die an der Wand aufwachen nach hundert Jahren,  Ritterbuschen, und das hast du diesmal ausgelassen.' - 'I, so'n verflixter Junge!  Da sitze ich […], daß ich das naseweise Kind zum Einschlafen bringe, und es weiß immer wieder alles besser.
 
Raabe spielt hier nicht nur auf die immer wieder Staunen erweckende Beobachtung an, daß Kinder beim Wiederhören Grimm'scher Märchen meist genau auf jede Einzelheit achten, gegebenenfalls Auslassungen, Fehler und sogar leichte Textabweichungen sofort monieren, sondern er versteht es auch meisterhaft seinen typischen Humor einzubringen. Die Kinderfrau ist offenbar schlecht beraten, wenn sie das hellwache Kind ausgerechnet mit der Aufwachszene aus „Dornröschen“ in den Schlaf bringen will.
 
Die Fliegen aber erwecken als interessante oder lästige Insekten nicht nur die besondere Aufmerksamkeit der Kinder, sondern schon immer auch von mißgelaunten Erwachsenen. Der unleidliche römische Kaiser Domitian hat nach dem Bericht des Historikers Sueton mit Vorliebe Fliegen gefangen und diese dann mit Federkielen aufgespießt, und die Redensart „Sich über die Fliegen an der Wand ärgern“ ist seit 1681 belegt.
 
Die märchenerzählenden Hessen waren auf dem rechten Weg zur Popularisierung ihrer Geschichten, als sie den Tieraufzählungen in Perraults „Dornröschen“-Märchen die Fliegen hinzufügten.
 
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2020

 Redaktion: Frank Becker