Als das Mögen von Söhnen noch nicht relevant war

Vor 100 Jahren schrieb Franz Kafka den „Brief an den Vater“

von Uwe Blass

Prof. Dr. Peter Zimmermann - © UniService Transfer
Als das Mögen von Söhnen noch nicht relevant war

Vor 100 Jahren schrieb Franz Kafka den „Brief an den Vater“
 
Ein Interview mit dem Entwicklungspsychologen Prof. Dr. Peter Zimmermann

Ein berühmtes Wuppertaler Beispiel für ein gestörtes Vater-Sohn-Verhältnis ist die Beziehung zwischen Friedrich Engels und seinem gleichnamigen Vater. Auch August von der Heydt hatte eine schwierige Vater-Sohn-Problembeziehung mit all seinen Söhnen. Jedoch wurde so etwas im 19. Jahrhundert nicht erörtert. Vom 10. bis 13. November 1919 schrieb Franz Kafka in Schelesen bei Prag einen rund 100 Seiten langen Brief an seinen Vater Hermann. Dieser wurde jedoch nie abgeschickt und erst 1952 in der Literaturzeitschrift „Neue Rundschau“ veröffentlicht. Der „Brief an den Vater“ ist eine Abrechnung Kafkas mit seinem übermächtigen Erzeuger. Herr Zimmermann, wie entstehen Vater-Sohn-Konflikte?

Zimmermann: Das ist, um mit Theodor Fontane zu antworten, `ein weites Feld´. In der Tat, sind die genannten Beispiele von Engels oder von der Heydt, vielleicht auch bei Kafka, deshalb sehr spezielle Fälle von Vater-Sohn-Konflikten, weil die Väter jeweils berühmt oder erfolgreich waren. Man darf das nicht auf alle Väter und Söhne generalisieren, da muß man differenzieren. Wenn die Väter beruflich sehr erfolgreich sind oder von Personen umgeben sind, die im eigenen Metier sehr gut funktionieren und effektiv sind, entwickeln sie eher ähnliche Verhaltenserwartungen an ihr gesamtes Umfeld. Und wenn man diese Art der funktionalen Beziehung -alle sind erfolgreich, alle ziehen am gleichen Strang- auf die Familie überträgt, dann hofft oder erwartet man, daß die eigenen Kinder vielleicht in der gleichen Art und Weise funktionieren. Und das kann dann ein wesentlicher Auslöser von Konflikten mit den eigenen Kindern sein. Wenn man erwartet, daß Verhaltensmuster und Effizienzkriterien einer Arbeitsbeziehung in der eigenen Familie genauso funktionieren, kommt es mit Söhnen und mit Töchtern natürlich zu Konflikten, weil in Familienbeziehungen andere Kriterien ebenfalls relevant sind. Vergleichbare Probleme mit Söhnen, wie Kafka sie schildert, entstehen dann, wenn Väter erwarten, daß die Kinder vielleicht in die gleichen Fußstapfen treten, daß sie die eigene Erfolgsgeschichte weiterführen, daß sie genau so funktionsfähig und tüchtig sind, wie man selbst ist oder vielleicht gerne wäre. In der Familie sind Konflikte zwischen Söhnen und Vätern nicht selten. Allerdings auch zwischen Töchtern und Vätern und Kindern und ihren Müttern. Oft geht es darum, welche Regeln befolgt werden, oder wann Kinder ihre eigene Autonomie ausleben dürfen. Spätestens im Jugendalter kommen Konflikte über alltägliche Dinge, wie die Frage: Ist das Zimmer aufgeräumt?  Befolgt das Kind die Anordnungen der Eltern oder nicht? Das Aushandeln von Regeln in der Familie geht meist mit Uneinigkeit einher, wobei die Eltern heutzutage oft mehr unter den Alltagskonflikten leiden als die Jugendlichen selbst. Interessant dabei ist, daß man heute weiß, daß die Konflikte zwischen Jugendlichen und Eltern nicht häufiger sind, als zwischen den Eltern selbst. Es ist also normal, wenn Leute zusammenarbeiten oder zusammenleben und sie emotionale Beziehungen haben, daß sie in Spannungen geraten. Ein wesentliches Merkmal des speziellen Vaterkonflikts bei Kafka, wie er es beschreibt, ist jedoch die dauerhafte Erfahrung, als Person nicht akzeptiert zu werden. Das ist ein generell großes Problem bei Eltern-Kind-Beziehungen und gilt für Mütter und Väter gleichermaßen. Wenn man Kafkas Erlebnisse historisch betrachtet, und in Teilen unserer Gesellschaft gilt dies vielleicht auch noch heute, könnte man jedoch sagen, daß Väter zumindest damals stärker repräsentierten, wie die Welt außerhalb der Familie funktionierte; nämlich erfolgreich sein, etwas schaffen, vielleicht geschäftstüchtig sein, etwas fertigstellen, voranbringen, sich an Regelwerken mit ihren Vorgaben stärker orientieren als an Beziehungen und Fürsorge und stärker in Hierarchien denken. Und das macht den Vater-Sohn-Konflikt auch spezieller.

Auch im Jahr 1920 spielte Kafka noch immer mit dem Gedanken, den Brief seinem Vater zuzustellen. Er hat es nicht getan. Warum sind Konfliktgespräche zwischen Söhnen und Vätern so schwierig?

Zimmermann: Ich würde gar nicht davon ausgehen, daß die prinzipiell schwierig sind. Es war eine sehr spezielle Beziehung zwischen Kafka und seinem Vater, zumindest, wenn man den sehr langen Brief Kafkas als Grundlage nimmt. Als Bindungsforscher kann man deutlich sehen, daß das, was Kafka an der Beziehung zu seinem Vater hauptsächlich belastete und lange beschäftigte, die Nichtanerkennung seiner Person war und das konstante Abwerten der Andersartigkeit seiner Persönlichkeit im Vergleich zu der seines Vaters, wobei der Vater offensichtlich niemanden in der gesamten Familie akzeptierte und auch andere Personen abgewertet hat. Von Kafka wurde jedoch als Sohn vermutlich mehr Ähnlichkeit in der Berufswahl, im Habitus, im Erfolg mit seinem Vater erwartet, so daß es offensichtlich eine dauerhaft abwertende Beziehung gewesen zu sein scheint. In der Bindungsforschung kennt man dies als eine der Ursachen für eine unsichere Bindung. Dauerhafte Abwertung emotionaler Bedürfnisse nach Zuneigung und Trost und, vor allem je älter man wird, das Erleben, als Person nicht akzeptiert zu werden und in seiner Eigenständigkeit und der eigenen Autonomie verunsichert zu werden, sind Ursachen für die Entwicklung einer unsicheren Bindung. Der Brief hat, bindungstheoretisch betrachtet, tatsächlich einige Kennzeichen einer unsicher-verwickelten Bindung bei Kafka. Es zeigt sich in der Art und Weise, wie er über seinen Vater spricht und wie auch dieser Brief formuliert ist. Daß er ihm Vorwürfe macht, abwertende Erlebnisse mit dem Vater mit szenischen Elemente wiedergibt, die deutlich machen, daß er eigentlich gerne vom Vater akzeptiert wäre und er gleichzeitig erkennt, daß er es nie sein wird. Bei allen Vorwürfen, die er ihm macht, betont er fast im selben Abschnitt immer wieder, daß er jedoch verstehe, wieso der Vater so handelt. Dieses Oszillieren der Beziehungsbewertung, zwischen Vorwurf und gleichzeitiger Rücknahme des Vorwurfs, charakterisiert dieses spezifische unsichere Bindungsmuster. Wir wissen nicht, ob dies objektiv so stattgefunden hat, oder ob Kafka dies subjektiv so erlebt und interpretiert hat. Bindungsunsicherheit führt auf alle Fälle häufiger dazu, daß Meinungsverschiedenheiten zwischen Eltern und ihren jugendlichen oder auch schon erwachsenen Kindern eher konflikthaft werden und in der Erinnerung daran später sogar noch als emotional belastender beurteilt werden, als man dies in der konkreten Streitsituation aktuell selbst erlebt hat. Deshalb sind Konfliktgespräche zwischen Vätern und Söhnen nur dann besonders schwierig, wenn Väter nur ihre Erziehungsziele im Blick haben und die Beziehung und die emotionale Nähe für weniger wichtig erachten. Historisch betrachtet war am Ende des 19. Jahrhunderts die Erwartung an Söhne sicherlich stärker als heute, daß sie innerhalb von Hierarchien funktionierten und Respekt zeigten. Kafka hatte mit der individuellen Abwertung durch seinen Vater, aber auch dem damaligen Zeitgeist zu kämpfen. Er hat vielleicht deshalb den „Brief“ nie abgeschickt. Dennoch scheint er ja viele Leser angesprochen zu haben.

Kafka beschreibt in diesem Brief den bleibenden psychischen Eindruck, den dieses Verhalten bei ihm selbst hinterließ. Können diese psychischen Eindrücke je überwunden werden?

Zimmermann: Was wir aus der Bindungsforschung wissen, ist, daß familiäre Beziehungserfahrungen in viele andere enge Beziehungen weitergetragen werden und man die eigenen Kinder, wenn man in Stress gerät ähnlich behandelt, wie man das selbst erlebt hat, auch wenn man sich in ruhigen Momenten, ohne Stress, vorgenommen hatte, dies nie zu tun. Eltern sind markante Personen im Lebenslauf, die wichtig für den Selbstwert sind und deren Verständnis oder Orientierungshilfe in Notsituationen auch für viele Erwachsene noch eine Rolle spielen. Die Forschung zeigt, daß längsschnittlich Veränderungen in den Bindungsmustern bei Erwachsenen durch korrigierende enge Beziehungserfahrungen, z. B. in Liebesbeziehungen oder durch andere unterstützende Vaterfiguren erfolgen können. Bei Personen, die negative Beziehungserfahrungen in der Familie gemacht, aber später eine sichere Bindungsrepräsentation entwickelt haben, stellt man fest, daß sie diese negativen Beziehungserfahrungen erinnern und ihre Auswirkungen auf die eigenen Persönlichkeit verstehen und akzeptieren können und diese – vielleicht anders als Kafka - nicht nur wiederkehrend und ruminierend erinnern oder sie minimieren. Dies kann auch durch Therapie gefördert werden. Kann man es also überwinden? Ja! Man ist dem nicht ausgeliefert.

Würde Kafka in der heutigen Zeit leben, hätte er vielleicht erkannt, daß er eine sensible Persönlichkeit ist, die dieselbe Daseinsberechtigung hat wie der etwas robustere Charakter des Vaters.
Können Briefe Therapiecharakter haben?


Zimmermann: (lacht) Eine nette Frage. Es gibt in der Tat in der Psychologie sowas Ähnliches, nämlich Interventionsforschung zum sogenannten „Expressiven Schreiben“. Man bittet Personen an mehreren Tagen schriftlich zu formulieren, was sie spezifisch aktuell oder früher erlebt haben, was Auslöser dessen war, was ihre Gedanken und Gefühle in diesem Zusammenhang sind und eventuell welchen Bezug diese Gedanken und Gefühle zu Personen in ihrem Umfeld haben. In anderen Schreibinterventionen geht es darum, die Aufmerksamkeit, Gedanken und Gefühle darauf zu lenken, wofür man dankbar sein kann. Dies soll helfen die eigenen Emotionen zu regulieren und Erfahrungen neu zu bewerten. Reframing oder Re-Appraisal nennen Psychologen das. Expressives Schreiben alleine ist aber keine Therapie. Es führt langfristig oft zu mehr Wohlbefinden, aber alleine nicht generell zu bedeutsamen Veränderung von tatsächlichen Depressionen oder anderen psychischen Erkrankungen.

Kafka läßt die Frage nach der persönlichen Schuld hinter sich und begreift den Zusammenprall derart unterschiedlicher Charaktere eher als Verhängnis. Gab es damals bereits Therapiemethoden, die diesem Konflikt hätten entgegenwirken können?

Zimmermann: 1919 gab es als psychologische Therapie nur die Psychoanalyse. Die war zwar noch relativ jung, aber wäre im Prinzip verfügbar gewesen. Ich bin mir aber nicht sicher, ob das alleine ausgereicht hätte, weil Freud nach anderen Auslösern oder Gesichtspunkten gesucht hätte. Mit dem Wissen der Bindungstheorie etwa 50 Jahre später und der daraus folgenden Bindungsforschung wäre Kafkas Beziehungserfahrung als maladaptiv erkannt worden. Der Brief zeigt aber, daß Kafka eigentlich gar nicht mit seinem Vater abgeschlossen hatte, da er die Erfahrung selbst als Erwachsener immer noch als Verhängnis beschreibt, also noch nicht als Teil seiner Lebenserfahrung akzeptiert hat. Dies zeigt diesen unsicher-verwickelten Charakter der Bindungsbeziehung. Er entkommt dem Konflikt nicht, es gibt für ihn sozusagen keine Lösung. Er bleibt auch noch als Erwachsener eigentlich hilflos in diesem Konflikt emotional verhaftet und hat den „Brief“ deshalb vielleicht auch nicht losgeschickt.

Welche Möglichkeiten haben Betroffene eines solchen Konfliktes heute?

Zimmermann: Wenn die Konflikte tatsächlich zu psychischen Beeinträchtigungen führen, kann man heute die Psychotherapie nutzen, die vielfältig angeboten wird und heute ja Kassenleistung ist. Bindungsorientierte Familientherapie kann die Dynamik solcher Konflikte effizient beeinflussen. Aber die Frage ist, ob Kafkas Erfahrungen mit einem so autoritären und abwerteten Vater von 1919 auch heute noch so auftreten oder als gesellschaftlich akzeptiert betrachtet würden. Wir leben in einer Zeit, in der die Bindungs- und Autonomiebedürfnisse von Jugendlichen und Kindern gesellschaftlich und durch Bezugspersonen deutlich besser akzeptiert werden und Kinderrechte zumindest formell etabliert sind. Das emotionale Wohl von Kindern wird heute sicherlich mehr geachtet als zu Kafkas Zeiten. Allerdings sind Vater-Sohn-Konflikte oder auch andere Eltern-Kind-Konflikte nicht verschwunden und es ist sicherlich nicht so, daß Eltern heute keine Erwartungen mehr an ihre Kinder hinsichtlich Schule, Leistung und Lebensgestaltung hätten. Dies ist aus Fürsorge und Lebenserfahrung sinnvoll und oftmals verständlich, aber einige Eltern akzeptieren ihre Kinder vor allem dann nicht, wenn diese andere Interessen haben, andere berufliche Perspektiven wollen und den Lebensentwurf der Eltern selbst nicht leben möchten. Das hat sich nicht verändert.

Ein aktuelles Forschungsprojekt Ihres Lehrstuhls heißt „Bindung und Väter“. Worum geht es da?


Zimmermann: Wir wollen unter anderem herausfinden, wovon die Entwicklung der Bindungsqualität, also der emotionalen Sicherheit eines Kindes zum Vater im Vergleich zur emotionalen Sicherheit zur Mutter abhängt. Die bisherige Forschung deutet ein bißchen darauf hin, daß Väter in der Interaktion mit den Kindern ein wenig wilder und aktiver sind als Mütter, die im Spiel häufiger fürsorglicher sind. Die aktuelle Frage für uns ist nun, ob diese Forschungsergebnisse, die wir aus den 70er und 80er Jahren kennen, mit der Veränderung der Familiensituation und der Vaterrolle heute immer noch so gültig sind oder sich verändert haben. Zum anderen wollen wir herausfinden, inwieweit die Kinder sich gegenüber Mutter und Vater auch anders verhalten, wenn beide da sind. Verhält sich ein Kind mit der Mutter anders als mit dem Vater und ändert sich das, wenn der andere Elternteil dabei ist? Das sind aktuelle Forschungsfragen, für die wir Familien gewinnen möchten, die bereit sind uns zu unterstützen das herauszufinden. Wir suchen also Familien mit Säuglingen und werdende Eltern, die gerade ihre Kinder bekommen haben, oder bald welche bekommen. Wir würden sie gerne an die Universität einladen und zu ihnen nach Hause kommen, sie zum Kind befragen, beobachten, wie ihr Kind auf sie reagiert, also sehen, wie ihr Kind sich entwickelt und dabei Ähnlichkeiten und Unterschiede der Beziehung zu Mutter und Vater betrachten. Je mehr Eltern mitmachen, umso breiter ist auch das Wissen, das wir generieren können. Es wäre schön, wenn viele mitmachen würden.

Uwe Blass (Gespräch vom 25.09.2019)