Pater noster

von Wendelin Haverkamp

© Jürgen Pankarz
Pater noster
 
Redakteure, heißt es, seien negative Seelen, ganz besonders die bei Funk und Fernsehen. Das sei sozusagen ihre „Deformation professionelle": Immer am meckern, unzufrieden und destruktiv. Glauben Sie kein Wort; das sind alles Vorurteile von interessierter Seite, in der Regel von nicht fest angestellten, freien Mitarbeitern. In Wirklichkeit sind Redakteure im Grunde ihres Herzens sehr, sehr harmoniebedürftig und nichts sehen sie lieber, als daß andere das Programm erstellen und sie es nur schweren Herzens verantworten müssen.
     Das WDR-Gebäude am Kölner Wallrafplatz ist ein Ort, an dem sich das leicht erkennen läßt. Hier ist alles fein renoviert: Die Böden, die Fenster, die Treppen bundesrepublikanische Gründerzeit, da wurde keinesfalls an Gebühren gespart. Und das Schönste von allem ist direkt gegenüber vom Haupteingang der alte Paternoster, der friedlich knarrend auf- und abschuckelt.
     Und siehe - eine weitgekleidete Dame ungeklärten Alters stürzt herbei und eilt auf ihn zu; markant sind im Gesicht Zeichen hoher Anspannung eingemeißelt. Wird es ihr gelingen, den dritten Stock noch vor Beginn des Ablaufes der Dienstzeit zu erreichen, um den in der linken Hand demonstrativ hoch gehaltenen Karton mit brandwichtigen Tonaufzeichnungen zu übergeben?
     Homöopathisch gerändert sind die großgeschminkten Augen auf den Personenumlaufaufzug gerichtet; sie will nach oben, und sie muß nach oben. Die Sehnen spannen sich, der Marlene-Dietrich-Maxi flattert im Windzug des entschlossenen Sprunges: Geschafft!
     Da steht sie nun wie ein öffentlich-rechtliches Ausrufezeichen in dem vertikalen Beförderungs-Band, und in Sekundenbruchteilen geschieht das Wunder: Alle Spannungen fallen von ihr ab, die Atmung beruhigt sich, und die Augen, nicht daß sie lächeln würden, dazu handelt es sich zweifellos um einen Menschen in mindestens allzu verantwortlicher, womöglich gar gleichstellungsbeauftragter Position, doch nun blicken sie in ruhiger Hoffnung in das Dunkel hinein, das sich von oben auf die weiß blondierten Strähnen herabzusenken beginnt.
     Eine beruhigende Zauberwirkung scheint von der elevatorischen Urkraft des Paternosters auszugehen. Dabei sollte er schon längst abgeschafft werden, ja war fast schon landesweit außer Diensten und wurde erst in letzter Sekunde gerettet. Ein breites Bündnis von öffentlich verdingten Mitmenschen aus Straßenverkehrsämtern, Pflegeheimen und Rundfunkanstalten, kurz, wichtige Behörden aller Art warfen sich dazwischen, führten einen zähen Kampf und blieben siegreich; ein schönes Beispiel für engagierten Bürgersinn. Allerdings ist es nicht so, daß jetzt jeder mit dem Paternoster fahren darf. Die Benutzung des geretteten Personen-Beförderungs-Systems bleibt vielmehr auf Körperschaften des öffentlichen Dienstes und analoge Körperbildungen beschränkt; normale Mitbürger dürfen selbstverständlich nicht damit fahren.
     Der Grund liegt auf der Hand. 60 Jahre sind die Dinger so gut wie ohne Unfall gelaufen, und nun wird es natürlich extrem gefährlich, weil der erste kurz bevorstehen muß, statistisch gesehen. Und für den Fall ist es in der Tat besser, es trifft einen, dessen Ruhestand durch allerlei Pensionen und fürsorgliche Maßnahmen auf hohem Niveau gesichert ist: Pater noster, Vater Staat.
     Und so erklärt sich die enge Wahlverwandtschaft zwischen einem Paternoster in öffentlichen Häusern und den dort ursprünglich zur Arbeit verdingten Menschen, nirgends verbindet sich der Charakter eines Vehikels enger mit der Mentalität seiner Passagiere: Es ist sein ruhiges Wesen, die Regelmäßigkeit der Fortbewegung, diese maximale Geschwindigkeit von eins komma fünf Kilometern in der Stunde, die auch den rastlosesten Redakteur fasziniert.
     Schon die intelligente Minderung des Bedienungsaufwandes stützt die Sympathie: Kein mühsames Aufstemmen von Türen, kein kräftezehrendes Drücken von Knöpfen wie „3. Stock“, keine komplizierten Abläufe, die erlernt werden müssen. Der Paternoster ist ideal für Menschen, die ständig Wichtigeres im Kopf und in den Beinen auch nix haben: In völliger Geistesabwesenheit kann man hineintreten und ebenso wieder hinaus, man übenøvindet die Schwerkraft, ohne sie zu spüren, und das entspricht - ich wußte, daß Sie es bemerken - dem Wesen im Dienst des Öffentlichen.
     Unmerklich nähert es sich der Vollendung der eigenen Existenz, will sagen der Endstufe der Besoldung, im Einklang mit der steten Wiederkehr des Gleichen. Und während man beim Aufzug tief fallen kann, wenn die Seilschaft reißt - im Paternoster hat man immer einen über und einen unter, aber nie einen neben sich.
     Und ist nicht, kleiner philosophischer Appendix, keine Angst, dauert nicht lange, die Metaphysik des unkündbar öffentlich bestallten Wesens letztlich die des Menschen überhaupt? Ist nicht Kafkas Schloß eigentlich ein einziger rätselhafter, großer, dunkler Paternoster? Moment, werden Sie kritisch einwenden, Redakteurlnnen sind doch erklärtermaßen ganz anders drauf als nur mal so als Beispiel - die Leute vom Straßenverkehrsamt! Sind sie nicht bekannt für ihre permanente investigative, unbändig kreative, beißende Kritik, für ihren Drang zu Unabhängigkeit und Freiheit?
     Sie haben recht. Doch der Paternoster bringt es an den Tag: Das ist nur ihre rauhe Schale. Tief innen drin, da sieht es anders aus; da sehnen sie sich nach dem Frieden der geregelten Altersversorgung. Doch das dürfen sie nie, nie zugeben, und nie, nie dürfen sie mit jemandem darüber sprechen. Schon gar nicht mit einem freien Mitarbeiter.
     Und deshalb fahren sie, wenn Sie ein Momentchen Zeit zwischen ihren aufreibenden Aktivitäten haben, so gerne Paternoster, auch außerhalb der Dienstzeit, und fühlen sich Wenigstens für Sekundenbruchteile wie ein Postoberinspektor auf dem Weg zur Kantine. Gönnen wir ihnen die kleine Freude. Wenn es sein muß, lebenslänglich.
 
 
Aus dem Buch „Parmesansides“, Aachen 2003
Die Illustration stellte freundlicherweise Jürgen Pankarz zur Verfügung.