Schwerer die Bücher nie wiegen...

Das Schlimmste an diesen Tagen ist das, was man schon kennt

von Max Christian Graeff

M.C. Graeff - Foto © Camillo Paravicini

Schwerer die Bücher nie wiegen...
 
Das Schlimmste an diesen Tagen ist das, was man schon kennt
 
Von Max Christian Graeff
 
Die Glöcklein scheppern durch die Budengassen, die Mägen grummeln. in Vorfreude auf schimmernde Köstlichkeiten und in den Augen spiegeln sich Abertausende gleißende LEDs. Über den Innenstädten schwe-ben Duftwolken von gezuckertem Schweröl mit Zimt und Kardamom. Und hinter den Butzenscheiben von Schöiler bis nach Beyenburg türmen sich Berge aus allem, was dem Neuen weichen muß. Aufräumen ist das Gebot derStunde: Die fehlfarbenen Laptoptaschen vom letzten Jahr, die unaktuellen Couchgarnituren, die nicht upgedateten Kochmaschinen und die ungelesenen Bildbände von Traumstränden der Dritten Welt - an den Straßenrand damit, ab nach Küllenhahn oder zum Pazifik. Einmal wird's schon noch gut gehen!
     Es ist soweit: Die Kampflinien sind aufgestellt. Es toben die Konsumentenorgien, die Bacchanalien der ungezügelten Inanspruchnahme aller Möglichkeiten, der Super-GAU des Festes, das man Liebe nennt Die Gans, das Kind, der Flachbildschirm. Im Schein der Kerzen wird gestritten und gesoffen, geneidet und beansprucht, gezweifelt, geschlagen und unverzüglich umgetauscht, daß sich die Achsen der Paketwagen aufs Neue biegen. Und schließlich ist doch alles auch - Kultur.
     Es ist nicht alles so, wie es scheint; auch ich kann Weihnachten mögen. Eben, wenn es anders scheint. Fern jeden Glaubens und somit auch jeder Weihnachtsgeschichte sind diese Tage eine Gelegenheit, die Welt nicht auszublenden, sondern sich erst recht mit ihr zu beschäftigen, vor allem mit all dem Unverstandenen, was sich im Überfluß am Jahresende staut. Und mit dem Unbekannten und Unvermuteten, das nicht auf Wunschlisten steht. Bei uns gab es aufgrund fehlender Kaufkraft oft .Bücher aus den elterlichen Schränken als Geschenk, und nach der ersten Enttäuschung, weil man im Wettbewerb der Freunde nicht würde bestehen können, haben diese Überraschungen tiefe Spuren geprägt: Persische Märchen, russische Gedichte, auch mal Tonscherben der Nabatäer - oder doofe Figuren aus Übersee - es waren allesamt Erweiterungen der eigenen kleinen Welt, mit dazu gehörenden Geschichten, Erlebnissen und Geheimnissen. Beim Essen wurde über die Vielfalt der Völker und deren Weltanschauungen gesprochen, auch über ihre Kriege und darüber, was dies mit der immer schon beunruhigenden Gegenwart zu tun hatte.
     Auch ein solches Weihnachten war zwar immer gleich, aber es war stets ein Fest des Neuen. Am Tisch saß eine fremde Welt, in der Bestellzettel, Selbstbelohnungen und die Optimierung des Gewohnten bedeutungslos sind. Weihnachten brachte Ungewünschtes und Unerwartetes und Grund genug, sich darauf zu freuen. Kaufen Sie doch mal nicht von den vorderen Tischen, sondern fischen Sie an den Rändern des Büchermeers. Womit nicht nur Märchen der Ferne gemeint sind, sondern zum Beispiel auch Werke von Autoren der eigenen Stadt, Vergessenes und Sinnliches, die natürlichen Ladenhüter fernab der ausgetreten Pfade. Klicken Sie nicht, sondern suchen Sie: Das beste Buch ist selbst getragen. Riskieren Sie, Ihre Liebsten zu verwundern; Schenken Sie sich den Rest vom Fest!  
 
 
© Max Christian Graeff