Kurven, Kippen und Kanonen

Raymond Chandler – „Der große Schlaf“

von Frank Becker

Kurven, Kippen und Kanonen
 
Die Erfindung des Hardboiled Krimis
 
Die Story, die Raymond Chandler in seinem Krimi-Klassiker „The Big Sleep“ um Privatdetektiv Philip Marlowe erzählt, ist an sich ist schon unterhaltsam und durchaus auch ziemlich spannend, ebenso das Eintauchen in die brodelnde Stadt Los Angeles der 1930er Jahre auf der Schwelle zu den 40ern. Doch das wäre alles nur ein Krimi mehr in der Geschichte des beliebten Genres ohne die unerhört markante Sprache, den verbalen Erfindungsreichtum Raymond Chandlers (1888-1959), der zu Beschreibungen, Formulierungen und Dialogen findet, die sogar gänzlich aus dem Zusammenhang gerissen auch ohne Story lesenswert sind. Auch 80 Jahre nach der amerikanischen Erstauflage ist dieser Roman so frisch wie eh und ein Beleg dafür, daß Krimis durchaus große Literatur sein können. Sicher hat die kongeniale Übersetzung, in diesem Fall von Frank Heibert, ihren Anteil an der äußerst gelungenen Wiederauflage dieses Klassikers, des ersten Romans Chandlers, nachdem er ab 1933 bereits mit einer Vielzahl von Kriminalkurzgeschichten in Zeitungen und Zeitschriften reüssiert hatte.
 
Die Story: General Sternwood ist steinalt, steinreich und schwerkrank – und er hat zwei verführerisch schöne, unkonventionell wilde Töchter, Vivian und Carmen mit aufregender Vergangenheit und Gegenwart. Sternwood will, daß Marlowe die Verbindung Carmens zu einem gewissen Arthur Gwynn Geiger untersucht und möglichst unterbindet. Als er dem auf den Pelz rückt, findet er Geiger in dessen Haus ermordet und Carmen offensichtlich unter Drogen - und nackt, wie die Königin von Saba in einem Lehnstuhl vor einer Kamera arrangiert. Die Fotoplatte ist verschwunden.
Kurz darauf tritt Vivian auf den Plan, nicht weniger attraktiv als ihre Schwester, wenn auch schlauer. Sie engagiert Marlowe ebenfalls, denn jetzt wird die aufreizende Carmen mit den Aktfotos erpreßt, und Marlowe soll auch diese Sache aus der Welt schaffen.
Der erste Großstadtdetektiv überhaupt sticht in ein Wespennest, denn Los Angeles´ Gangster fackeln nicht lange, wenn sie Dollars schnuppern. Da kommt es auf weitere Morde nicht an. Zwischen Banditen und Blondinen, Vamps und Verbrechern muß Marlowe taktieren und jonglieren, um mit heiler Haut (was ihm nicht unbedingt immer gelingt) und Honorar davonzukommen. Bernie Ohls, der Chefermittler des Staatsanwalts, ist ihm dabei eine willkommene freundschaftliche Hilfe.
 
Es sind Passagen wie diese hier, die den Poeten verraten: „Ich setzte mich auf die Kante eines tiefen weichen Sessels und starrte Mrs. Regan an. Sie war es wert. Sie war eine Bombe. (…) die Waden wunderschön, und die Melodielinie der schlanken Fesseln war das reinste Tongedicht.“ – „Sie erhob sich langsam und kam auf mich zu, ein Hüftschwung in einem engen schwarzen Kleid, das alles Licht schluckte. Sie hatte lange Schenkel und ging mit einem gewissen Etwas, das ich aus Buchläden eher nicht kannte, eine Aschblondine mit grünlichen Augen, falschen Wimpern und sanft gewellten Haaren, hinter die Ohren gestrichen, in denen große Jettknöpfe schillerten. Silberne Fingernägel. Trotz ihres Stylings rechnete man bei ihr mit einem ordinären Schlafzimmerakzent. So sexy, wie sie sich auf mich zuschob, hätte sie jeden Businesslunch in eine Stampede verwandeln können.“ - „Sie trug zwei lange Jade-Ohrringe, schöne Ohrringe. Die mußten ein paar Hundert Dollar gekostet haben. Sonst trug sie nichts. Ihr Körper war wunderschön: klein, geschmeidig, fest, kräftig, wohlgerundet. Ihre Haut schimmerte im Licht der Lampe wie Perlmutt. Ihre Beine hatten nicht ganz den verruchten Reiz von Mrs. Regans Beinen, aber sie waren sehr hübsch. Ich musterte sie von Kopf bis Fuß, weder peinlich berührt noch lüstern. Als nacktes Mädchen war sie überhaupt nicht anwesend. Sie war bloß eine taube Nuß. Für mich war sie immer bloß eine taube Nuß. Und jetzt eine betäubte.“ 
Und solche, die für die Hardboiled Detective Stories typisch wurden: „Der nächste Tag begann klar und sonnig. Ich erwachte mit einem Lederhandschuh im Mund, trank zwei Tassen Kaffee und ging die Morgenzeitungen durch (…) Als das Telefon klingelte, schüttelte ich gerade die Falten aus meinem feuchten Anzug.“ – „Der Motor des grauen Plymouth puckerte unter ihrer Stimme, und der Regen hämmerte aufs Dach. Das violette Licht auf der Spitze des grüngetönten Bullocks-Turms war hoch über uns, heiter und weit weg von der dunklen, triefenden Stadt. Ihre schwarz behandschuhte Hand kam mir entgegen, ich legte die Scheine darauf. Sie beugte sich vor, um sie im Schummerlicht des Armaturenbretts zu zählen. Eine Tasche klickte auf, klickte zu. Sie ließ einen Ausatmer auf ihren Lippen ersterben und beugte sich zu mir.“ - „Die Reifen sangen auf dem feuchten Asphalt des Boulevards. Die Welt war eine nasse Leere.“ – „So viele Schießeisen in der Stadt und so wenig Hirn.“ 
 
Der Diogenes Verlag startet mit „Der große Schlaf“ eine Neuedition von Chandlers Romanen um den Privatdetektiv Philip Marlowe. Preisgekrönte Übersetzer wurden verpflichtet und berühmte Chandler-Fans wie Donna Leon, Michael Connelly, Clemens Meyer und Rainer Moritz steuern Nachworte bei. Es wird sich lohnen, an der Serie dranzubleiben. Eine Empfehlung der Musenblätter.
 
Raymond Chandler – „Der große Schlaf“
Aus dem Amerikanischen von Frank Heibert. Mit einem Nachwort von Donna Leon
© 2019 Diogenes Verlag, 304 Seiten, Ganzleinen mit Schutzumschlag -  ISBN: 978-3-257-07078-1
22,- € (D) / 22,70 € (A) / 30,- * sFr

Weitere Informationen: www.diogenes.ch