Heilige

von Erwin Grosche

Foto © Kora Polster / pixelio.de
Heilige
(für Gennadi)
 
Wo sind die Heiligen? Wer wandelt in Unschuld? Die klaren Gedanken zerstören den Zauber. Die alte Fotokiste offenbart unser Verrohen. Wie ging man früher durch die Welt? Bescheidenheit und Demut sind keine guten Event-Manager. „Da ist doch kein Film drin“, sagte meine Mutter, wenn man einen Fotoapparat auf sie richtete. Man konnte sie beim Staunen erwischen, wenn es etwas zum Staunen gab. Wo sind die Heiligen? Die voreiligen Heiligen. Niemand ist heute mehr überrascht. Alle ersparen sich unschuldige Gemütsanstrengungen. Das Wissen verübelt uns die Überraschungen. Nieder mit den Fakten. Nieder mit den Erklärungen. Alle gehen aus sich heraus. Man stellt sich in Pose und grimassiert. Genügt diese Respektlosigkeit, um dem Wunder zu begegnen? Der Zauber der Poesie stirbt. Poesie hat mit Unschuld zu tun. Ein guter Fotograf weiß das. Die Kunst der Fotografie besteht im Festhalten unverfälschter Augenblicke. „Wir sind der Wahrheit auf der Spur.“ Wo sind die Heiligen? Die langweiligen Heiligen. Wo ist das Wunder der Verträumtheit? Wir trauen nur der Angst vor dem Tod. Kleine Kinder sind noch überrascht, aber zählt das? Als meiner Tochter der Ballon fortflog, weinte sie. Ich dachte nur, zum Glück weiß sie noch, was wichtig ist.
 
© Erwin Grosche