Wie die Welt von innen ihre Form erhält

Paul Dirac in der Anekdote

von Ernst Peter Fischer

Ernst Peter Fischer
Wie die Welt von innen ihre Form erhält

Von Ernst Peter Fischer
 

Paul Dirac in der Anekdote
 
Als im Jahre 1927 in Brüssel eine der damals legendären Solvay-Konferenzen abgehalten wurde, auf denen die Physiker seit 1911 die Fortschritte ihrer Disziplin erörterten, erhob Albert Einstein seinen weltbekannten Einwand gegen die neue Physik und ihre statistische Grundlegung mit seinem persönlichen Glaubensbekenntnis aus drei Worten, also mit dem berühmten und endlos zitierten Satz „Gott würfelt nicht!“. Pauli kommentierte das Gehörte mit den Worten, was Einstein da sage, sei eine Katastrophe, und ob er wirklich meine, Gott wisse, wie die Dinge und die ganze Welt in fünf Minuten aussehen? Außerdem sei es besser, die Frage, wie die Welt zu lenken sei, Gott selbst zu überlassen und ihm keine kleinlichen Vorschriften mit albernen Würfelspielen zu machen.
                Der Brüsseler Kongress erörterte in der Folge immer eingehender neben Fragen der Wissenschaft auch Themen der Religion und die Rolle, die Gott für einen Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts noch spielen und übernehmen kann, der sich in der Nähe der Antwort auf die Frage fühlt, „was die Welt im Innersten zusammenhält“. An diesen Gesprächen haben sich vor allem Werner Heisenberg und der etwa gleichaltrige und später ebenfalls mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnete Engländer Paul Dirac beteiligt. Pauli sagte lange Zeit nichts und hörte schweigend zu, wie auf der einen Seite Heisenberg redegewandt sein Verständnis für religiöse Bedürfnisse der Menschen und ihren Glauben an eine zentrale Ordnung darlegte, während Dirac aus seiner durchgängigen Abneigung gegen den kirchlichen Klimbim keinen Hehl machte und ausführlich für den Standpunkt argumentierte, „Religion ist Opium für das Volk.“ An einem Punkt seiner Ausführungen ergriff plötzlich Pauli das Wort, und er sagte mit einem maliziösen Lächeln: „Jetzt verstehe ich, was Dirac sagt. Er verkündet uns, ´Es gibt keinen Gott, und ich bin sein Prophet´“.
                Übrigens – es gibt Berichte über Gespräche oder Gesprächsversuche mit Dirac, in denen er vor allem zuhörte und nur ab und zu entweder „Ja“ oder „Nein“ sagte. Ein amerikanischer Student hat einmal folgenden Ausschnitt aus einem Interview berichtet, daß er mit dem seltsamen Briten geführt hat:
 
                „Prof. Dirac, haben Sie etwas dagegen, wenn ich über Positronen arbeite?“
                „Nein.“
                Wenn ich Probleme bekomme, kann ich dann direkt zu Ihnen kommen?“
                „Ja.“
                „Ihr ganzer Name lautet P.A.M. Dirac. Können Sie mir sagen, was die drei Buchstaben bedeuten?“
                „Nein.“
                „Gefällt es Ihnen in Florida?“
                „Ja.“
                „Gehen Sie gerne ins Kino?“
                „Ja.“
                „Lesen Sie Comics in den Zeitungen?“
                „Ja.“
                „Man hat gesagt, Sie seien der einzige, der Einstein wirklich versteht. Stimmt das?“
                „Nein.“
                „Gibt es jemanden, dessen Arbeiten selbst Sie nicht verstehen?“
                „Ja.“
                „Und wer ist das?“ 
 
                An dieser Stelle brach Dirac das Gespräch ab, wobei der Student seinem Bericht noch die Ansicht hinzufügte, eigentlich sei Dirac der Erfinder der digitalen Lebensweise. Bei ihm sei alles auf 1 und 0 oder Ja und Nein reduziert.
 
Der seltsamste Mensch
„The Strangest Man“ – so heißt die Biographie, die der britische Wissenschaftshistoriker Graham Farmelo über Paul Dirac geschrieben hat, wobei der Titel sich der Charakterisierung Diracs durch seine Kollegen verdankt. Er agierte tatsächlich seltsam, schwieg die meiste Zeit und gab nur ab und zu seltsame Kommentare ab. Nach der Lektüre des Romans „Schuld und Sühne“ von Fjodor Dostojewski etwa wunderte Dirac sich vor allem, daß der Autor an einem Tag die Sonne zweimal aufgehen läßt, und bei einem Besuch in einem Museum, in dem Bilder französischer Impressionisten gezeigt wurden, meinte ein ihn begleitender Physiker, daß es ihm vorkäme, als ob manche Boote noch nicht fertig gemalt seien und noch mehr Sorgfalt benötigten. Doch Dirac winkte ab und meinte, „Mir gefällt das, der Grad an Ungenauigkeit ist auf diese Weise an jeder Stelle gleich.“
                Einmal hat sich Dirac etwas ausführlicher zu der möglichen Unterscheidung von Wissenschaft und Poesie geäußert und gesagt, „In der Wissenschaft möchte man etwas sagen, daß noch niemand weiß, und man setzt dazu Worte ein, die jeder versteht. In der Poesie geht man umgekehrt vor. Man sagt Dinge, die jeder weiß, und benutzt eine Sprache, die niemand versteht.“
                Seltsamerweise gibt es eine Geschichte, die der große Schweiger gerne anderen erzählt hat, und es gibt sogar einige Leute, die haben ihm mehrfach dabei zuhören können und sich über sein begleitendes Schmunzeln gefreut. Was Dirac offenbar in höchstem Grade amüsierte und er, der die Präzision beim sprachlichen Ausdruck höher als alles schätzte, äußert witzig fand, klingt nacherzählt so:
                In einem kleinen Dorf (in England) wird ein neuer Priester eingesetzt, der sich bald seinen Gemeindemitgliedern vorstellte und sie der Reihe nach besuchte. In einer bescheidenen Unterkunft trifft er neben der Dame des Hauses auch eine Menge Kinder an, die durch die Gegend toben. Er erkundigt sich, „Wie viele Kinder haben Sie denn, liebe Frau?“, und erfährt, daß es insgesamt zehn Jungen und Mädchen gibt, und zwar jeweils Zwillinge. „Fünf Zwillingspärchen?“, wundert sich der Priester, „Haben sie tatsächlich immer Zwillinge bekommen?“ „Nein“, bekommt er als Antwort, „manchmal haben mein Mann und ich auch nichts bekommen.“
                Und noch eine Geschichte mit Dirac selbst. In den frühen 1950er Jahren, in den Zeiten des Kalten Krieges, ging vielen Leuten die beleidigende Sprache und die vielen Schimpfwörter auf die Nerven, die unter anderem amerikanische und britische Medien den Russen und anderen Ostblockländern gegenüber einsetzten. Dirac beruhigte seine Kollegen, das würde bald ein Ende nehmen. Auf die Frage, woher er das wissen könne, antwortete der große Schweiger, „so viele Schmähungen kennt die englische Sprache nicht, und bei den fortgesetzten Beleidigungen müssen bald alle aufgebraucht sein.“
 
 
© 2018 Ernst Peter Fischer

Aus: „Davon glaube ich kein Wort!“
Anekdoten und Geschichten aus der Welt der Wissenschaft