Die Geheimzahl

von Erwin Grosche

Foto © Harald Morsch
Die Geheimzahl

(Ein Outing)
 
Endlich stand Doktor Staub vor der Kasse und packte seine Waren auf das Band. Gleich fiel er wieder auf. Erst hatte er vergessen sein Gemüse auszuwiegen, später fand die Verkäuferin im Einkaufswagen noch eine Dose Hundefutter, die er unter seinen Tragetaschen übersehen hatte. „Das kann passieren“, sagte Frau Lohmann, die Kassiererin, aber blickte dabei, als dürfte so etwas nicht passieren. Sofort hatte sich hinter ihm eine Schlange gebildet. Er mußte sich beeilen, daß er nicht alle noch mehr aufhielt. Da mußte jeder Griff sitzen. Er schaute sich um und sah, wie ihm alle hoffnungsvoll zunickten. Sie waren nun eine Schicksalsgemeinschaft geworden. „Zahlen sie bar oder mit Karte?“, fragte Frau Lohmann. „Ich zahle mit Karte“, sagte Doktor Staub. Er spürte den Druck. Es kam nun auf ihn und seine Entschlossenheit an. Er dachte nach. Wie war nochmal die PIN seiner EC-Karte gewesen? Erinnerten nicht die Geheimzahlen an die alte Postleitzahl von Paderborn. „Ich kann mich nicht konzentrieren“, flüsterte Doktor Staub. Er schloß die Augen und wünschte sich fort. Zwecklos. „Ich habe es heute ein wenig eilig“, traute sich eine Frau zu sagen, die mit ihrer Tochter in der Schlange stand. „Nur keine Hektik“, sagte Doktor Staub. „Unter Stress kann ich nicht arbeiten.“ Frau Lohmann zeigte beherzt auf die Endsumme, die auf dem Registriergerät angezeigt wurde. Der Countdown lief. „Sie schaffen das“, sagte der Student mit der Latzhose, der hinter Doktor Staub stand. Doktor Staub nickte. Endlich hatte er seine EC-Karte gefunden, die er nicht, wie immer, in der Innentasche seiner Jacke deponiert hatte, sondern sie heute in die Außentasche gesteckt hatte, damit er beim Bezahlen leichter daran kommen würde. Frau Lohmann drehte ihm das Kartenlesegerät entgegen. Doktor Staub gelang es die Karte in den Schlitz des Kartenlesegeräts zu schieben. Er blickte sich um. „Sie schaffen das“, sagte nochmal der Student mit der Latzhose. Eine Ordensschwester nickte ihm aufmunternd zu. Wäre es hilfreich gewesen, hätte man ihm sogar die Muskeln massiert. Ein Kind wollte ihn, wie Kinder es gerne machen, durch das Zurufen anderer Zahlen durcheinanderbringen, hielt sich aber zurück, um lebend aus dem Combi-Markt zu kommen. Doktor Staub kratzte sich am Kinn. Gab es denn so was. Er hatte gerade noch die Geheimzahlen im Kopf gehabt. Gerade hatte er noch gewußt wie die vierstellige PIN sein mußte. Alle schauten ihn entsetzt an. Hatte er wieder laut mit sich gesprochen? „Kennt jemand die alte Postleitzahl von Paderborn?“, fragte er verlegen. Der Student mit der Latzhose schüttelte den Kopf. Keiner wußte Bescheid. Schließlich bog Frau Lohmann das Mikrophon zu sich und machte eine Durchsage: „Wenn einer der werten Kunden noch die alte Postleitzahl von Paderborn kennt, soll er sich bitte an Kasse 1 bei Frau Lohmann melden.“ Doktor Staub schaute auf den Boden. So etwas war ihm noch nie passiert. Schließlich tippte ihm die Ordensschwester auf die Schulter. „Die fing doch mit einer 4 an“, sagte sie zögerlich. Doktor Staub nickte. „Natürlich“, sagte er. „4,7, 9, 0. Die alte Postleitzahl von Paderborn war 4790.“ und gab die PIN in das Kartenlesegerät ein. Es hatte geklappt. Erleichtert schaute er sich um. Alle atmeten erleichtert auf. Einige klatschten sogar. „4790“, sagte Doktor Staub. „Natürlich. Alles kann so einfach sein.“
Er verneigte sich.
 
 
© Erwin Grosche