Häusliche Wetterwarte

von Werner Bergengruen

Umschlagzeichnung Jacques Schedler
Häusliche Wetterwarte
 
Jeder Reisende hat Grund, sich vorausschauend um das Wetter zu kümmern. Vielleicht werden einige wetterkımdliche Mitteilungen ihm willkommen sein. Ich mache sie nicht von unterwegs, sondern von meiner häuslichen Wetterwarte aus.
     Unter dieser häuslichen Wetterwarte wolle nun nicht etwa eine Einrichtung verstanden werden, welche die im Hause herrschende Atmosphäre abwechselnd als sonnig, Hochdrucksgebiet, veränderlich oder unheilschwanger zu bezeichnen hätte. Vielmehr begreife ich unter diesem Namen die vereinigte Tätigkeit meines Barometers und Thermometers, die, einander eng benachbart und doch durch Außenwand und Fenster geschieden, fortgesetzt Gegenstände meiner manchmal befremdeten Betrachtung bilden. Als drittes gehört noch eine drehbare Sternkarte dazu, doch kann hier von einer Tätigkeit nicht mehr geredet werden, denn sie ist, was man so sagt, ausgeleiert und will sich keinesfalls mehr drehen lassen. Hoffentlich braucht hieraus nicht der Schluß gezogen zu werden, es könne im Himmelsgewölbe ein ähnlicher Ermüdungszustand eintreten, auf den freilich gelegentliche Beobachtungen hinzudeuten scheinen.
     Begreiflicherweise wendet mein Interesse sich dem Barometer in höherem Grade zu als dem Thermometer. Das Barometer ist ein Mittelwesen zwischen Gesetzgeber und Propheten, wogegen dem Thermometer der niedrigere Rang eines bloßen Chronisten zukommt. Sagen, was ist, das kann jeder; aber sagen, was sein soll, oder gar, was sein wird - das bringt Ehre! Das Thermometer erinnert mich an einen unglückseligen Lehrer meiner Knabenzeit, der frühzeitig erkannt hatte, daß seine Kraft nicht ausreichte, den Ablauf einer Unterrichtsstunde zu bestimmen oder auch nur zu regeln. Infolgedessen beschränkte er sich darauf, ihn als gewissenhafter Chronist mitschreibend zu begleiten. Die ganze Stunde hindurch saß er gebückt über dem Klassenbuch und schrieb. Etwa in folgender Art: „Rabe treibt Fremdes“ - denn so verdeutschte er das griechische Wort Allotria – „Schmidt hat ungehörigerweise eine Pflanze mitgebracht. Er wirft sie Heimberg zu. Heimberg schleudert sie weiter. Bergengruen und Gruschewski spielen Sechsundsechzig, Gruschewskí mogelt.“ Erinnerungen solcher Art erschweren es mir, dem Thermometer eine übertriebene Hochachtung entgegenzubringen. Allenfalls haben Maximal- und Minimalthermometer einen Anspruch auf Schätzung, sie halten einen sonst unwiederbringlich verrauschenden Augenblick für die Zukunft fest und lassen sich mit dem geheimnisvollen Allerweltsmann vergleichen, welcher die Wochenschau für das Kino anfertigt; auch aus dieser wird man noch in späten Jahren ablesen können, wie kalt oder wie warm das Leben in unserem Zeitalter gewesen ist.
     Eine nicht abzuleugnende Verwandtschaft waltet zwischen dem Barometer und der Uhr. Das lange Barometer, gebildet wie ein Lineal mit Auswuchs, entspricht der Standuhr, das kreisförmige der Wanduhr. Aus altmodischen Häusern meiner baltischen Heimat erinnere ich mich noch gewisser halbmannshoher Barometer von Mahagoni oder hellgebeiztem Birkenholz, auf denen nicht nur Sturm, Regen, Schönwetter und Trockenheit, sondern auch Erdbeben und Weltuntergang verzeichnet stand. Heute wird diese Art nicht mehr angefertigt, heute wollen die Menschen ja nicht mehr an den jüngsten Tag glauben. Von der Uhr unterscheiden sich Thermometer und Barometer vornehmlich dadurch, daß der Bewegung der Uhr etwas Fortschreitendes und somit zur Zukunft, zum Unendlichen, ja, zum jüngsten Tage Drängendes innewohnt, während Barometer und Thermometer mit unordentlich fluktuierendem Hin und Her so recht als Exponenten der Gegenwärtigkeit erscheinen. Dies steht dem Thermometer als einem die Aktualität abspiegelnden Chronisten zu, während es bei einem zu Prognosezwecken geschaffenen Apparat sein Bedenkliches haben mag. Überhaupt läßt sich nicht bestreiten, daß die prophetische Tätigkeit des Barometers manchen Hemmungen unterworfen ist.
     Der Umgang mit dem Barometer erlernt sich schwer; oder vielmehr, um es nur offen einzugestehen, er erlernt sich gar nicht. Wenig empfiehlt es sich, etwa volkstümliche Darstellungen der Wetterkunde zu Rate zu ziehen, denn eine solche Lektüre zerstört nur liebgewordene, wenn auch unklare Vorstellungen, ohne nun präzise Begriffe an deren Stelle zu setzen. Man erfährt zum Beispiel, daß die Isobaren keineswegs eine Inselgruppe des spanischen Sprachgebiets sind, und die Isothermen keineswegs prunkvolle Badeanlagen des kaiserlichen Rom, die etwa zum spätantiken Isiskult eine nicht ganz billigenswerte Beziehung unterhalten. Aber was nun Isobaren und Isothermen eigentlich sind, darüber gelangt man auch nicht zur Gewißheit. Die Welt ist durch Aufklärung noch nie reicher geworden. Schließlich würde auch die genaueste Kenntnis der Isobaren- und Isothermenbewandtnisse niemanden befähigen, sein Barometer über das freiwillig Gewährte hinaus zu Leistungen anzuhalten.
jeden Morgen, auf dem Wege vom Schlaf- zum Badezimmer passiere ich die häusliche Wetterwarte, und zwar im Zustande einer unwilligen Verglasung, da ja Morgenstunde nun einmal Blei oder mangansaueren Schwerspat im Munde hat. Ich trete ans Barometer in der vagen Hoffnung, irgendetwas Tröstliches zu erfahren, denn des Trostes ist man ja zu diesem Zeitpunkt so ungemein bedürftig. Das ist eine kleine Zeremonie und berufen, mir den Entschluß zum Tagesbeginn ein wenig leichter zu machen; andere Leute, so lasse ich mir sagen, vollführen in gleicher Absicht Kniebeugen, Kerzen und Rumpfwellen. Mit einer zarten Klopfbewegung suche ich das Barometer zu freundlichem Verhalten zu ermuntern. Das ist etwa, wie wenn man einem lahmen Pferde den Hals klopft oder dem Geldbriefträger zum Namenstag gratuliert; auch in der Wirkung lassen die Vorgänge sich vergleichen. Immerhin reagiert die Nadel mit einem winzigen Ausschlag, nach rechts oder links, dessen Bedeutung zu überschätzen man sich freilich hüten soll; denn er verpflichtet die Witterung zu nichts.
Vielleicht sollten wir nicht das Barometer verantwortlich machen, sondern dessen Hersteller, die in willkürlich anmutender Weise Äußerungen wie „stürmisch“ oder „sehr trocken“ dem Zifferblatt aufgenötigt haben. Ganz außer acht wurde hierbei gelassen, daß man in strengen, nicht endenmögenden Wintern nur das Eine zu erfahren wünscht: wann denn die Schweinerei nun endlich einmal aufhört. Aber dergleichen wird nicht gesagt, und daß es auch an bedeckten und feuchten Tagen empfindlich kühl und bei wolkenlosem Himmel unangenehm heiß sein kann, dies läßt die barometrische Prophetie durchaus unberücksichtigt. Zu beanstanden ist auch die irreführende Usance, ein unverändert schlechtes Wetter mit dem Terminus „Veränderlich“, der ja doch immer einer kleinen Hoffnung Raum gibt, zu bezeichnen.
Wie es Maximal- und Minimalthermometer gibt, so gibt es auch Optimal- und Pessimalbarometer. Kurdirektionen und sommerfrischliche Pensionsinhaber pflegen mit dem Optimalbarometer zu arbeiten. Zu welcher Klasse das meine gehört, das habe ich noch nicht herausgebracht. Denn einstweilen, so scheint es, hat es sich an die Luftdruckverhältnisse meines Arbeitszimmers noch nicht gewöhnen können. Es geht immer noch von jenen des Optikerladens aus, in welchem es seine Jugend verbrachte.
     Die Abrichtbarkeit des Barometers scheint gering. Am besten tut man ohne Frage, sich die Deutungsmethode jenes alten Norwegers zu eigen zu machen, der in einem deutschen Gebirgsort am Vorabend einer geplanten Bergwanderung bekümmert sagte: „Morgen wir werden haben eine frückterliche Wetter, das Barometer steht auf: Optiker Hermann Müller.“ Dieser Äußerung liegt offenbar die Einsicht in die irrationale Komponente der Barometrie zugrunde. Und vielleicht ist sie wichtiger als jede andere meteorologische Erkenntnis. Denn dies ist der Grund, auf welchem immer von neuem die große Tröstung erblüht, und es ist ja um ihretwillen, daß ich in der Unfröhlichkeit des Morgens meinen Gang zur häuslichen Wettewarte tue: von neuem möchte ich die Versicherung empfangen, daß die Natur, die wir als Mutter lieben, als Göttin ehren, als Hexe scheuen, zugleich die zauberische, immer wieder begehrte und umworbene Geliebte bleibt, kinderhaft und launisch, und nicht daran denkt, ihre beglückenden Capricen durch noch so exakte Maschinerien im Vorhinein festlegen zu lassen.
 
 
Werner Bergengruen (aus: Badekur des Herzens)


Werner Bergengruen lebte von 1892 bis 1964. Er hinterließ ein umfangreiches Werk in Lyrik und Prosa. Mit der freundlichen Erlaubnis der Werner Bergengruen-Gesellschaft, die auch die Erben Bergengruens vertritt, dürfen wir Texte aus seinem Œuvre veröffentlichen.