An Gottfried Keller

Ein Weihnachtsbrief aus dem Jahr 1884

von Theodor Storm

Theodor Storm, Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek
Theodor Storm an Gottfried Keller
 
Hademarschen, 21. Dezember 1884.
 
Sonntag vor Weihnachtsabend, liebster Keller!
Drunten im größten Zimmer ist schon die über zwölf Fuß hohe Tanne aufgestellt und biegt ihre Spitze unter der Decke; achtzehn Weihnachtspakete sind expediert, und gestern abend sind Netze geschnitten, Bonbons eingewickelt, ist vergoldet etc. Und ich kann mir nicht helfen, ich muß Ihnen diesen kleinen Weihnachtsbrief schreiben.
Einige Pakete sind auch hier angelangt, vor allem, wie alle Jahre, von einem Braunschweiger Freund, den ich freilich auch nie gesehen, Pfefferkuchen und desfallsige altheilige Männer, aus Lübeck Marzipan, und ein eifriger Verehrer, ich glaub aus Wien, schreibt meiner Frau, er müsse mir was schenken, morgens käm's an; wär er ein reicher Mann, sollt's aber ganz anders kommen; Petersen soll mir etwas gar Wunderliches geschickt haben; doch das bleibt alles Geheimnis bis zum Weihnachtsabend.
Übermorgen kommt mein Junge, Karl, der „stille Musikant“; darauf freuen sich insonders die beiden jüngsten Mädel, Gertrud und Dodo, die ich diesmal nur zu Haus habe. Mir selbst und ihm schenke ich die neueste Ausgabe von Mörikes Gedichten; die älteste besitz ich schon über vierzig Jahre; aber auch einen kleinen Teppich und eine lange Gesundheitspfeife; er schmökt gern aus langen Pfeifen, wie weiland der junge Konditor Pahl in Husum, der nun längst verdorben, wenn auch nicht gestorben ist...
Dienstagabend wird der Baum geputzt und der Märchenzweig nicht vergessen; Rotkehlchen sitzen und fliegen in dem Tannengrün, und eines sitzt und singt bei seinem Nest mit Eiern. Erst gehen wir in die Kirche, hören, was unser Pastor sagt, hören die Kinder mehrstimmig singen und sehen die beiden hohen Tannen am Altar brennen. Das gehört dazu. Darm brennt der schönere Baum zu Hause; und nach dem Abendessen kommt mein Bruder Johannes, der Holzhändler - dem ältesten Sohne, auch hier, trauten wir im Herbst eine lebendige Hamburgerin an - mit seinen vier Söhnen, zwei Töchtern, Schwiegertochter und seinem Weibe, meiner Frauen Schwester, und dann gibt es ein Glas nordischen Punsches.
So beschließt sich Weihnachtabend, und ich werde Ihnen eins nach Zürich hinübertrinken. Auf weitere Freundschaft und noch ein paar Jahre leidlich Leben!