Und dennoch sieht und hört man fasziniert zu...

„Judy“ von Rupert Goold

von Renate Wagner

Judy
(USA 2019)

Regie: Rupert Goold
Mit: Renée Zellweger, Jessie Buckley, Rufus Sewell, Michael Gambon u.a.
 
Judy Garland. Ehrlich – wer erinnert sich noch an sie? Gelegentlich läuft im Fernsehen „Der Zauberer von Oz“, der unsterbliche Klassiker, dann sieht man, wie ein kleines Mädchen mit Zöpfen mit unglaublicher Power auf der Leinwand singt und hüpft und tanzt. Man hat auch noch im Hinterkopf, daß Judy Garland „von der Filmindustrie zugrunde gerichtet wurde“. Ist sie deshalb wirklich eine Legende?
Im Film wird sie nun als solche angerichtet. Wobei die Geschichte der alternden Frau (tatsächlich war sie erst 47, als sie starb, ein versehentlicher Selbstmord wohl, aber sie sah damals uralt und gebeugt aus) immer wieder quer geschnitten wird mit jener des Kindes Judy. Das unter brutalsten Bedingungen und mit Psychoterror von den MGM-Bossen zum Kinderstar gedrillt wurde. Schön sei sie nicht, sagt Studioboß Louis B. Mayer (verabscheuungswürdig: Richard Cordery) zu ihr (Darci Shaw spielt das Kind Judy ergreifend), aber sie hat etwas Besonderes: „Du hast diese Stimme.“ Nein, sie ist nicht so süß wie Shirley Temple, aber mal sehen, was sie erreichen kann… Und die Frage schwebt in der Luft, ob der alte Produzent das kleine Mädchen auch mißbraucht hat.
 
Schnitt: In einem Hotelzimmer sitzt die alte, abgewrackte Judy Garland und schluckt Pillen. Renée Zellweger (übrigens zwei Monate vor dem Tag geboren, an dem Judy Garland starb) hat sich in diesem Film von Rupert Goold in Judy verwandelt, und wer die „echte“ im Gedächtnis hat, wird die Ähnlichkeit einigermaßen gelungen, aber nicht wirklich überwältigend finden. Doch immerhin gelingt der Zellweger etwas anderes: Sie schafft ein Kunstgeschöpf namens Judy und zelebriert mit ungeheurem Aufwand und ungeheurer Intensität deren Untergang – und das tut sie stellenweise atemberaubend. Wenn auch der spekulative Kitsch des Drehbuchs oft überbordet, sie – diese Judy, ihre Judy – verursacht Gänsehaut. Das ist nicht weniger als eine echte Tragödie.
Diese Frau stand immer zwischen irgendwelchen Männern, sie war fünfmal verheiratet. Von Vincente Minnelli hatte sie eine Tochter (die später berühmte Liza Minnelli, der es auch nicht gut gegangen ist), von Sid Luft (Rufus Sewell) eine Tochter und einen Sohn. Am Ende heiratete sie kurz vor ihrem Tod einen schönen jungen Mann namens Mickey Deans (Finn Wittrock), der ihr bei einer Party begegnet und dem sie sagt, ihre Kindheit sei irgendwie an ihr vorbeigeflutscht… Dann spielt er Klavier, und man ist wieder zurück bei dem Kind Judy und ihrem Partner, dem kleinen Mickey Rooney, mit dem man sie im Doppelpack „medial“ verkauft. Aber ihre Gefühle werden nicht erwidert. Damals schon fütterte man sie mit Pillen – vor allem, um sie am Essen zu hindern…
 
Kein Wunder, daß man die Judy des Films, die labile Zellweger-Judy, nur als drogensüchtig kennen lernt. Ein Leben ohne glückliche Minute (zumindest in der Auswahl, die dieser Film wählt). Der Kampf um die Kinder, die ein verantwortungsvoller Vater, Sid Luft, ihr wegnehmen will. Was ihm logischerweise auch gelingt. Was sie, offenbar eine tief empfindende Mutter, in weitere Verzweiflungen stürzt.
Die anderen Aspekte beziehen sich auf ihre Karriere. Man erlebt Judy Garlands letzte Lebenswochen in London, wo sie für Bühnenauftritte verpflichtet war. Sie konnte nach ihrer Kinderkarriere in den vierziger Jahren noch als Star in Musicalfilmen reüssieren, dann riß ihre Präsenz auf der Leinwand ab. Immerhin hat sie sich – wie Marlene Dietrich, nur mit viel mehr Stimme als diese – als Sängerin auf Bühnen behauptet. Oder auch nicht, denn ihr Trinken, ihr Medikamentenmißbrauch machte sie zum Risikofaktor, absolut unzuverlässig. Assistentinnen (Jessie Buckley als Rosalyn Wilder) schleppten sie geradezu auf die Bühnen. Manche Szenen schmerzen in ihrer Gnadenlosigkeit. Aber es wird klar, welche Belastung diese Frau, die sich nicht aufrecht halten konnte, für ihre Umwelt war… Und wie peinlich berührt die Fans, denen sie sich aufdrängte, weil sie so einsam war… das allerdings dürfte Erfindung sein, das Skript basiert auf einem Theaterstück von Peter Quilter (der auch die Florence Foster Jenkins -Geschichte „Glorious“ geschrieben hat). Autoren erfinden, als ob die Wirklichkeit nicht schlimm genug wäre.
Der Film scheint wie ein perpetum mobile, sowohl in den Szenen der Kindheit wie in den Szenen der Erwachsenen. Aus dem unglücklichen Kind wird eine larmoyante Erwachsene. Wie interessant ist das? Nun, das ist Renee Zellweger in der, wie sie sagt, „Rolle ihres Lebens“. Vor zwei Jahrzehnten war sie die naive „Nurse Betty“, dann vielfach die fette, alberne Bridget Jones. Erstaunlich, wie sie schwarzhaarig, fern jeder Komödie, die verzweifelte, zynische, innerlich todmüde Borderline-Künstlerin gibt. Der Film ist wie eine Händel-Arie, die ihre Koloraturen immer wieder, mit wenigen Variationen, wiederholt. Und dennoch sieht und hört man fasziniert zu. Bei aller Künstlichkeit, die dieser ausgestellten Virtuosenleistung innewohnt.
 
 
Renate Wagner