Klavier-Festival Ruhr 2020

Zum Auftakt Daniel Barenboim - „250 Jahre Beethoven“ in Wuppertal

von Johannes Vesper

Daniel Barenboim Foto © @PeterWieler

Klavier-Festival Ruhr 2020
 
Daniel Barenboim zum Auftakt
„250 Jahre Beethoven“ in Wuppertal
 
Von Johannes Vesper
 
Bekannterweise feiert die Welt auf allen Kontinenten 2020 den 250. Geburtstag Ludwig van Beethovens. Sein Erfolg und seine Größe waren ihm nicht in die Wege gelegt worden. Von häuslicher Gewalt und Mißhandlung des kleinen Ludwig liest man in Biografien. Den alkoholkranken Vater hat Ludwig jedenfalls mit 17 Jahren verklagt, um über eigene Einkünfte verfügen und die Familie nach dem Tod der geliebten Mutter unterstützen zu können. Er selbst schrieb zu dieser Zeit, daß „das Schicksal ihm in Bonn nicht günstig sei“. Im Jubiläumsjahr 2020 des heute vielleicht berühmtesten Komponisten überhaupt stehen allein in Deutschland bundesweit rund 1000 Veranstaltungen auf dem Programm, und an seinem Geburtstag wird das West-Eastern Divan Orchestra unter Daniel Barenboim in der Geburtsstadt Bonn die „Neunte“ aufführen. Erst mal aber kam jetzt Daniel Barenboim mit vier Sonaten des Jubilars nach Wuppertal in den Großen Saal der Historischen Stadthalle auf dem Johannesberg. Das Beethovensche Klavierwerk gilt als das Neue Testament der Klavierliteratur und der Chefdirigent der Staatsoper Berlin hat Beethovens Klaviersonaten in den letzten 60 Jahren insgesamt dreimal in toto eingespielt. Beim ersten Mal war der russischstämmige, in Argentinien geborene und in Israel aufgewachsene Pianist gerade mal 16 Jahr alt.
Zwischen 1795 und 1822 komponierte Ludwig van Beethoven 32 Klaviersonaten. Zu Beginn des Konzertabends in Wuppertal spielte Barenboim die Sonate Nr. 9 E-Dur op. 14/1. Sie entstand nahezu gleichzeitig mit der heroischen Pathétique in den Jahren 1798/99. Der lyrische, kantable, durchsichtige, Charakter dieser Sonate, das Miteinander der Stimmen veranlaßte Ludwig später, die Sonate zum Streichquartett umzuarbeiten, war er doch mit den Ausdrucksmöglichkeiten der Klaviere seiner Zeit noch nicht zufrieden. Stille und Konzentration vor dem Anfang benötigte Barenboim nicht Er schreitet auf die Bühne und legt, den Begrüßungsapplaus fast stoppend, gleich los. Aufsteigende Quarten bilden das thematische Material des schnellen 1. Satzes. Das eher lyrische 2. Thema gewinnt an Substanz , wenn es in der Durchführung oktaviert von der rechten zur linken Hand zurück und durch die Tonarten wandert, bevor eine heftige Rubato-Sechzehntel-Triole im Baß immer wieder an die Grundtonart mahnt. Nach alledem endet der Satz mit einer nachdenklichen Coda in betörendem Pianissimo. Der 2. Satz, ein kurzes Allegretto zunächst in Moll, dann in Dur, der ganze Satz in flottem Dreier-Takt übernimmt die Funktion eines Scherzos. Das Thema steigt immer wieder und zuletzt in der kurzen Coda bis zum hohen e‘‘ auf. Das muntere Hauptthema des Schluß-Rondos fängt bei seiner jeweiligen Wiederkehr die eingeschobenen, teilweise in schnellen Triolen sich aufregenden Phantasien immer wieder ein.
 
Es folgte die frühere Sonate Nr. 4 op.7 in Es-Dur von 1796/97, die der 27jährige Ludwig, wie auch das 1. Klavierkonzert op.15, seiner Schülerin Babette, Gräfin von Keglevich de Buzin gewidmet hat. Ob sie in den pockennarbigen, 8 Jahre älteren Ludwig verliebt war, oder er in sie? Darüber ist nichts bekannt. Aber immerhin wurde diese Sonate gelegentlich auch „die Verliebte“ genannt. Die „Grande Sonate“, nach der Hammerklaviersonate die umfangreichste seines Oeuvres, erhielt als erste eine eigene Opuszahl. Mit schnellen 6/8 jagt der 1. Satz los, wie Ludwig auf seinem Reitpferd. Reitvergnügen auf eigenem Pferd hatte sich auch schon Mozart gegönnt. Die bald einsetzende Umspielung und Veränderung des Themas bereitet die auffallend kurze Durchführung des langen 1. Satzes schon vor. Im 2. Satz, „Largo con gran espressione“, folgt im ¾ Takt auf die aufsteigende Sekunde nach ¼ Pause eine fallende Quart, wie Frage und Antwort, bevor das durch pointierte Doppelpunktierung charakterisierte 2. Thema beginnt. Herrlich wie das Thema in der Mittelstimme sang. Der 3. Satz, ein ausgedehntes Allegro ebenfalls im ¾ Tag, wird als Scherzo nicht bezeichnet. Sein musikalischer Fluß wird immer wieder durch Pausen und stürmische Moll-Intermezzi unterbrochen. Im letzten Satz, einem gefälligen Rondo, wird das grazile, lyrische Thema zunächst von Sechzehntelrepetitionen im Baß begleitet. Später wechseln bei zunehmendem Ernst virtuose 32stel der linken Hand mit solchen der rechten. Zwischen den bedrohlichen Zwischenspielen erfand der Pianist das Tempo des Rondothemas immer wieder neu. Endlich endete der Satz in bewegtem Piano und der Applaus brach erst nach ca. vier Sekunden der Stille los.
 
Nach der Pause war die kurze relativ Klaviersonate Nr. 22 Opus 54 von 1804 zu hören, die im Schatten zweier Titanen des Beethovenschen Klavierwerkes, nämlich der Waldsteinsonate und der Apassionata, entstand. Erste Ideen zu dieser Sonate entwickelt Ludwig auf einem Spaziergang während seiner Sommerfrische in Döbling 1802. Den ganzen Weg habe er für sich gebrummt oder teilweise geheult immer herauf und herunter ohne bestimmte Töne zu singen. Da sei ihm ein Thema zum letzten Satz eingefallen, berichtete sein damaliger Begleiter und Schüler F. Ries. Mit op. 111 verbindet diese Sonate die Zweisätzigkeit. Der 1. Satz, „In Tempo d`un Menuetto“ im ¾ Takt, beginnt mit stiller, cantabile zur Quart aufsteigend punktierter Terz, bevor „sempre forte et staccato“ oktavierte und teilweise fugierte Ostinato- Triolen in das musikalische Geschehen einfallen. Bei virtuosen Passagen schleichen sich hier einige Unsauberkeiten ins Spiel und die Pedale werden oft genutzt. Vor nachdenklichem Diminuendo-Schluß über dem Puls des repetierten tiefen F (Orgelpunkt) wird bei Takt 135 mit Triller, Fermate und Generalpause innegehalten. Mit einem barocken Menuett hat das nichts mehr zu tun. Das flinke Allegretto dolce des 2. Satzes entwickelt sich, frei die Harmonien wechselnd, in beidhändigen auf-/absteigenden, oft unruhig sforzando atypisch gegenbetonten Sechzehnteln und wird strukturiert durch den wichtigen, in ½ Noten kräftig einherschreitenden Baß. Der stellenweise mulmige und verschwommene Klangeindruck ist dem Saal, der für seine klare und saubere Akustik gerühmt wird, nicht anzulasten. Dabei interessiert sich Barenboim besonders für den Klang, während Struktur der Komposition und Technik des Klavierspiels für ihn eine geringere Bedeutung zu haben scheinen, schreibt er (s.u.).
 
Die Sonate Nr. 32 in c-Moll op. 111 von 1822 beschließt den Abend wie das Klavier-Sonatenwerk Ludwig van Beethovens, der seit Sommer 1821 unter schwerer Gelbsucht (Virushepatitis?) und zunehmend unter Müdigkeit, Unwohlsein, Kopf- Gelenk- und Muskelschmerzen litt. Wieso er gegen das c-Moll des 1. Satzes einen Variationssatz in Dur ans Ende dieser 2-sätzigen Sonate stellte und einen 3. Satz erst gar nicht komponiert hat? Keiner weiß es. Er selbst antwortete auf diesbezügliche Fragen grantig, er habe keine Zeit gehabt. Die Sonate, die vom zeitgenössischen Publikum damals gar nicht so recht geschätzt wurde, bekam besondere Bedeutung durch den Vortrag und die Erläuterungen des Kantors Wendell Kretzschmar im Roman „Dr. Faustus“ von Thomas Mann. Der hatte 1943 im Exil am kalifornischen Strand mit Theodor W. Adorno über die aktuelle Barbarei in Deutschland, über den Konflikt zwischen überlieferter musikalischer Konvention und musikalischem Fortschritt, eben über Op. 111 diskutiert. Die beiden hatten sich über die subjektive Gewalt Beethovens, über den Exzeß an Grübelei, über die Seele des tauben, an seinen Krankheiten leidenden Komponisten ausgetauscht, der hier in seinem Spätstil nahezu autistisch sein Inneres nach außen kehrt. Ludwig selbst hatte an den Rand der Komposition schon warnend geschrieben „Ludwig-Ludwig“! Das alles ist intellektuell anspruchsvoll und nicht leicht zu lesen. Barenboim, mit ernster Musikalität nicht auf technische Sicherheit bedacht, läßt seine gebannten Zuhörer aber musikalisch teilhaben. Auch hier ging der Beginn der letzten Sonate im vorangehenden Applaus nahezu unter. Dabei wird mit mächtig herabstürzender großer 32stel Sexte gleich zu Beginn die Tonart gesprengt und mit nachfolgender Chromatik und Sekundschritten die Harmonie erweitert, bevor nach finsterer, tiefer Accelerando-Crescendo-Trillerkette con brio, lebhaft und feurig, das schroffe, spröde Hauptthema losstürmt und schon im 1. Takt mit einer Fermate wieder innehält. Die alles andere als akkuraten und dekorativen Verzierungen des Themas führen zu seiner Auflösung mit Sprüngen der übergreifenden rechten Hand vom Fortissimo des hohen f‘‘ 3.5 Oktaven hinab in die Tiefen der Klaviatur und sofort wieder sforzato 4 Oktaven hinauf zum ces‘‘. Das bedarf der Erholung aller Beteiligten mit expressivem Ritardando und Eintakt-Adagio. Hier wie zuvor auch schon gelegentlich störte eselartiger Husten einiger Zuhörer aus der Tiefe ihres verschleimten Bronchialsystems den Abend durchaus.
Nahezu ohne Pause schloß der Pianist den „ungeheuren“ Variationssatz in C-Dur mit 6 Variationen über das liedhafte, melancholische Arietta-Thema mit dem Motiv der fallenden punktierten Quart an. Thomas Mann skandiert zunächst dazu „Himmelsblau“ oder „Liebesleid“, später völlig musikalisch sinnfrei Dim-dada. Das Ganze spielt zunächst in ungewöhnlichem 9/16 Takt. In Var. III drängen  schnelle, beidhändige punktierte 32tel (12/32 Takt) disparat weit in den hohen Diskant und tiefen Baß. Das Tempo des 2. Satzes hat Beethoven - Metronom-Angaben zum Werk fehlen (!) - im Vergleich zu den heutigen Pianisten eher flotter genommen. Siebzehn Minuten dauerte er heute Abend. Dabei soll das Grundtempo trotz dauernder Taktwechsel wahrscheinlich konstant durchlaufen, steht doch zweimal „L’istesso“ tempo über den Noten. In seinem Interview (FAZ 11.01.20) empfiehlt   Barenboim allerdings, das Metronom zu vergessen. Er folgte an diesem Abend also durchaus seinen eigenen metrischen Empfindungen. Beethovens letzte Klaviersonate schließt jedenfalls im pianissimo alles andere als heroisch.    
 
Altersmilde des Komponisten? Kann man so nicht sagen. Immerhin folgen noch Missa solemnis,
die Diabelli-Variationen und die späten Streichquartette. Großer Applaus, stehende Ovationen, Bravi,
mehrfach Blumen-Geschenke. Ein historischer Klavierabend in Wuppertal, zu dem ganz NRW von Bonn bis Münster gekommen war.


Daniel Barenboim Foto © @PeterWieler