Hölderlins letzte Gedichte

Zum 250. Geburtstag des Dichters

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
Hölderlins letzte Gedichte
 
Zum 250. Geburtstag des Dichters
 
Von Heinz Rölleke
 
Einer der berühmtesten Lyriker der Weltliteratur wurde am 20. März 1770 in Lauffen am Neckar geboren. Mit Ludwig van Beethoven und Friedrich Hegel (mit dem er eine Stube im Tübinger Stift teilte) bildet er eine bemerkenswerte Trias dieses Jahrgangs. Von ähnlichem Kaliber ist später nur noch der Geburtsjahrgang 1813, in dem die Komponisten Richard Wagner und Giuseppe Verdi, der Philosoph Søren Kierkegaard sowie die Dichter Georg Büchner, Friedrich Hebbel und Otto Ludwig zur Welt kamen.
 
Hölderlin sollte eigentlich Theologe werden, aber er schlug sich wie viele seiner Kommilitonen mit wenig Erfolg als Hauslehrer durchs Leben. Anfang 1796 stellte ihn der Frankfurter Bankier Gontard in seinem Haus an. Dort kam es zur schicksalhaften Begegnung mit dessen dem jungen Dichter seelenverwandten Gattin Susette Gontard, die er schon bald als Diotima in seinen Gedichten und seinem „Hyperion“-Roman feierte. Im Sommer 1796 verlebte Hölderlin mit ihr und seinem Freund, dem Dichter Wilhelm Heinse, in Kassel und Bad Driburg die offenbar schönste Zeit seines Lebens. Als die Kriegsgefahr vorüber schien, kehrte man nach Frankfurt zurück. Das nun fortdauernde zärtliche Verhältnis seiner Ehefrau zu dem jungen Dichter scheint Gontard nicht zur Kenntnis genommen zu haben, jedenfalls hat es ihn nicht gestört; doch als er eines Abends verärgert nach Hause kam und die beiden bei einer gemeinsamen Lektüre antraf, fuhr er seinen Bedienten unwirsch an, ob er nichts Besseres zu tun hätte, als immer mit seiner Frau herumzusitzen. Hölderlin verließ zutiefst gekränkt sofort das Haus und hat seine Geliebte nie wieder gesehen. Ein leider nicht komplett erhaltener Briefwechsel endete anscheinend im März 1800 mit Susettes Worten: „Ich kann nicht weiter schreiben. Lebe wohl! Lebe wohl! Du bist unvergänglich in mir! Und bleibst so lange ich bleibe.“ Hölderlin begann ein unstetes Wanderleben – die letzte Hauslehrerstelle nahm er 1801 in Bordeaux an, kehrte von dort im Juni 1802 nach einem langen Fußmarsch mit seinem Resümee „mich hat Apollo geschlagen“ in zerrüttetem Zustand zu seiner Mutter nach Nürtingen zurück. Zur selben Zeit (am 22. Juni) starb Susette Gontard – in den nun entstehenden Dichtungen Hölderlins erscheint der Namen „Diotima“ nie mehr. Sein Freund Isaac von Sinclair vermittelte ihm im Juni 1804 eine (pro forma) Bibliothekarsstelle in Bad Homburg, wo er als „pauvre Oelterling“ lebte, bis Sinclair in Verdacht des Hochverrats geriet und er seinen immer mehr Anflüge von Geisteskrankheit zeigenden Schützling sicherheitshalber in die Psychiatrie schicken wollte. Als die Kutsche vorfuhr, um Hölderlin abzuholen, geriet dieser in Panik, weil er dachte, es ginge um eine Verhaftung im Zusammenhang mit der Verfolgung Sinclairs. Er schrie immer wieder „ich will kein Jakobiner sein“, wehrte sich und wurde mit brutaler Gewalt in die Kutsche gezerrt, sodann gefesselt in die Autenriethsche Klinik in Tübingen eingeliefert, wo er nach den seinerzeit gängigen Praktiken bis 1807 behandelt und dann als unheilbar, aber ungefährlich entlassen wurde. Der Schreinermeister Ernst Zimmer, der einen Stadtturm in Tübingen als Wohn- und Arbeitsstätte benutzte, nahm ihn in Kost und Logis. Dort lebte Hölderlin mit allen Anzeichen geistiger Verwirrung 36 Jahre bis zu seinem Tod am 7. Juni 1843.
 
Über die Frage, wie es tatsächlich um ihn bestellt war, erhob sich nach dem Zweiten Weltkrieg ein großer Streit: Während der Großteil der Biographen und Interpreten sowie medizingeschichtliche Kapazitäten am Befund festhielten, zu dem auch schon alle Zeitgenossen des Dichters gekommen waren, entwickelte ein sozialistisch dominierter Teil der Germanisten die These, der Dichter habe sich nur verstellt, um der immer noch befürchteten Verhaftung zu entgehen und aus dieser 'gesicherten' Position seine angeblich revolutionären Thesen ungestraft verbreiten zu können. Zwar hatte man die Frage nach dem Zeitpunkt, ab dem die seit 1802 entstandene Lyrik als zunehmend kryptisch oder gar unverständlich zu werten sei, zunehmend dahingehend beantwortet, daß immer mehr Gedichte, die man zunächst als einigermaßen sinnlose Produktionen eines Geisteskranken gewertet hatte, neuerlich als große, wenn auch äußerst schwer zugängliche Poesie verstehen lernte. Von dieser neuen Wertung rigoros ausgenommen wurden aber die wenigen seit September 1806 entstandenen schriftlichen Zeugnisse Hölderlins, die man denn auch in den Kommentaren bestenfalls mit einigen Worten pauschal abtat: Sie seien ohne Qualität und bestenfalls Produkte eines Schizophrenen, der etwas sagen möchte, es aber nicht aussprechen kann. Dafür schien auch sein zunehmendes Verstummen zu sprechen, das er offenbar in der Vorfassung zu „Mnemosyne“, einer seiner letzten vollendeten Dichtungen, schon angedeutet hatte:
 
                        „Ein Zeichen sind wir, deutungslos, 
                        Schmerzlos sind wir und haben fast
                        Die Sprache in der Fremde verloren.“
 
In seinen 36 letzten Lebensjahren hatte sich ihm die Realität entfremdet, und besonders die wenigen Menschen, mit denen er noch Kontakt hatte, waren ihm zunehmend fremd geworden: Er verstand ihre, sie verstanden seine Sprache   nicht mehr.
 
Dennoch verdienen es vor allem einige der in dieser Zeit entstandenen vierzeiligen Gedichte ernst genommen und letztlich als hohe Poesie bewertet zu werden. Daß diese Verse anscheinend in Momenten geistiger Helle von ihm niedergeschrieben wurden, bezeugt ein Brief des braven Schreinermeisters Zimmer vom 19. April 1812 an Hölderlins Mutter:
 
            „Sein dichterischer Geist zeigt sich noch immer tätig, so sah Er bei mir eine Zeichnung von einem Tempel. Er sagte mir ich sollte einen von Holz so machen, ich versetzte Ihm drauf daß ich um Brot arbeiten müßte, ich sei nicht so glücklich so in philosophischer Ruhe zu leben wie Er, gleich    versetzte er, 'Ach ich bin doch ein armer Mensch', und in der nämlichen Minute schrieb er mir folgenden Vers mit Bleistift auf ein Brett

                                                           An Zimmern
                                   Die Linien des Lebens sind verschieden
                                   Wie Wege sind, und wie der Berge Grenzen.                                                                     
                                   Was hier wir sind, kann dort ein Gott ergänzen
                                   Mit Harmonien und ewigem Lohn und Frieden.“
 
Die Umrißlinien der Schweizer Alpengipfel bei St. Gallen hatte er vor Jahren in seiner Zeit als Hauslehrer täglich im Haus Gonzenbach aus seinem Fenster gesehen. Nach vielen Mythologien bilden sie die Grenzscheide zwischen Diesseits und Jenseits: Die Lebenswege der Menschen sind „hier“ im Diesseits unterschiedlich und zum Teil gegenläufig; nur „dort“, im Jenseits, kann „ein Gott“ sie in Harmonie bringen – dann herrscht ewiger Friede, und das scheint der Lohn für den irdischen Lebenswandel des 'armen Menschen' zu sein. 
 
Schlechthin erschütternder als ohnehin wirken folgende Verse, wenn man ihren versteckten Sinn versteht:
 
                                   „Das Angenehme dieser Welt hab' ich genossen,
                                   Die Jugendstunden sind, wie lang! wie lang verflossen,
                                   April und Mai und Julius sind ferne,
                                   Ich bin nichts mehr, ich lebe nicht mehr gerne!“
 
Frühere Abdrucke haben die scheinbar fehlerhafte Aufzählung nacheinander folgender Frühlingsmonate als Flüchtigkeit gewertet und wohlmeinend korrigiert - „April und Mai und Junius sind ferne.“ Hölderlin hat seit dem Tod seiner Geliebten am 22. Juni 1802 deren (poetischen) Namen „Diotima“ nie mehr ausgesprochen, und so verschweigt er hier sogar auch den Monat ihres Sterbens, während er sich in der ersten Zeile noch die wunderbare Zeit seiner „Jugendstunden“ an ihrer Seite imaginiert hatte. Den erschütternden Lakonismus der Schlußzeile kann man auf der Folie einer rhetorischen Frage eines früheren Gedichts („Menschenbeifall“) aus glücklicheren Tagen ermessen: „Ist nicht heilig mein Herz, schöneren Lebens voll, seit ich liebe?“ Ohne Diotima fühlt er sich wie ein Nichts, und das Leben ist ihm freud- und sinnlos geworden. Hölderlins eigener Todestag sollte ebenfalls in den Juni fallen: Er starb an einem 7. Juni, sie war 41 Jahre zuvor an einem 22. Juni gestorben.
 
Wenn diese Deutung ungefähr das Richtige trifft, so ist es nicht verwunderlich, daß Dichter mit feinem Gespür für poetische Qualität gerade aus der späten Lyrik Hölderlins zitieren, zum Beispiel Thomas Mann aus dem Gedicht „Hälfte des Lebens“, Clemens Brentano, Wilhelm Raabe, Hermann Hesse und Georg Trakl aus der ersten Strophe des Gedichts „Brot und Wein“. Der dem großen Hölderlin geistesverwandte Lyriker Trakl ist es auch, der aus einem der scheinbar verwirrten Gedichte seines großen Vorbilds ein wunderbares poetisches Bild übernimmt:
 
                                               „Auf den Tod eines Kindes
                                   Die Schönheit ist den Kindern eigen,
                                   Ist Gottes Ebenbild vielleicht,
                                   Ihr Eigentum ist Ruh und Schweigen,
                                   Das Engeln auch zum Lob gereicht.“
 
Trakls Gedicht „Verklärter Herbst“ endet mit den Versen
 
                                   „Wie schön sich Bild an Bildchen reiht,
                                   Das geht in Ruh und Schweigen unter.“
 
Wenn Besucher von dem kranken Hölderlin einige Verse erbaten, so pflegte er diese oft mit Phantasienamen und -daten zu unterzeichnen. So nennt er sich meist „Scardanelli“ und bietet unter anderen die Jahreszahlen „1648“, „November 1759“ oder „1940“. Diese scheinen nicht alle willkürlich gewählt, denn zumindest einige geben einen so guten Sinn, daß es schwerfällt, hier an Verwirrung und Zufall zu glauben. 1648 war das Jahr des Westfälischen Friedens, mit dem der Dreißigjährige Krieg endete – seit dem Friedensschluß von Lunéville (Februar 1801) war Hölderlin zunehmend auf das Thema „Frieden“ fixiert, vornehmlich in seiner großen Hymne „Die Friedensfeier“ - und in dem auf das Friedensjahr 1648 datierten Gedicht finden sich genau zum Thema stimmende Verse: Dieser „Tag […] lacht die Menschheit an“ oder „Ein neues Leben will der Zukunft sich enthüllen.“ Im „November 1759 wurde der schwäbische Dichter Friedrich Schiller geboren, von Hölderlin stets mit einer Art von heiliger Scheu und grenzenloser Bewunderung „Meister“ genannt. Als er sich in seinen Dichtungen von dem scheinbar übermächtigen Vorbild ab- und der Mutter Natur zuwandte, hatte er den Dichtern geraten („An die jungen Dichter“):
 
                                   „Wenn der Meister euch ängstigt,
                                   Fragt die Natur um Rat.“
 
Sollte es Zufall sein, daß er in dem späten Gedicht, das nach seiner Phantasiedatierung auf Schiller Bezug nimmt, die erste Zeile im Sinn dieses früheren Ratschlags mit einem absoluten Komparativ formuliert: „Das Glänzen der Natur ist höheres Erscheinen“? Gegenüber wem die Natur das 'Höhere' ist, bleibt unausgesprochen; im Blick auf das frühere Gedicht kann man aber wohl den Namen „Schiller“ vermuten.
 
Aus den meisten Gedichten Hölderlins aus der Zeit seiner Umnachtung sprechen eine sanfte Schicksalsergebenheit beim Betrachten der Natur und der wechselnden Jahreszeiten oder ein gedämpft wehmütiges Erinnern an glückliche frühere Tage:
 
                                   „Nicht alle Tage nennet die schönsten der,
                                       Der sich zurücksehnt unter die Freuden wo
                                           Ihn Freunde liebten wo die Menschen
                                               Über dem Jüngling mit Gunst verweilten.“                         
 
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2020

 Redaktion: Frank Becker