Der Walter-Hasenclever-Literaturpreis 2020 geht an Marica Bodrožić

Denkmal für den einfachen Menschen

Red.

Marica Bodrožić by Peter von Felbert

Der Walter-Hasenclever-Literaturpreis 2020
geht an Marica Bodrožić

Heimat als „Verpflichtung zum Unterwegssein“

Die deutsche Schriftstellerin kroatischer Abstammung Marica Bodrožić erhält in diesem Jahr den Walter-Hasenclever-Literaturpreis der Stadt Aachen. Das gab Mario W. Johnen, Vorsitzender der Walter-Hasenclever-Gesellschaft, am 27. Januar 2020 bekannt. Der Preis wurde im Gedenken an den in Aachen geborenen Schriftsteller Walter Hasenclever gestiftet. Er zeichnet literarische Arbeiten aus, die in der künstlerischen Grundhaltung, durch Themenwahl oder durch literarische Form mit dem Wirken Hasenclevers in Verbindung gebracht werden können. Die Preisverleihung findet am 22. November im Aachener Ludwig Forum statt.
Die Jury würdigt mit der Preisvergabe 2020 das Gesamtwerk der 1973 geborenen Autorin, die mit „ihrem Leben und Werk für einen Fokus auf Mittel-Europa“ steht und die das „‘Grenzgänger-sein‘ in einem modernen Europa verkörpert. Das eigene wird dadurch gerade im zunächst Fremden, Anderen entdeckt und zum Ausdruck gebracht“, heißt es in der Begründung der Jury.
 
Denkmal für den einfachen Menschen
Bis zu ihrem zehnten Lebensjahr wurde Marica Bodrožić von ihrem Großvater und anderen Verwandten in der Nähe von Split aufgezogen. 1983 siedelte sie nach Deutschland über. Ab diesem Zeitpunkt erlernte sie auch die deutsche Sprache. Ihre frühen Erzählungen und Gedichte widmen sich der poetischen Ausschöpfung von Gedächtnis und Erinnerung. Immer wieder sind es Suchende, Umherreisende, Verlorene, derer sie sich annimmt und die sie sprachlich, den einfachen Menschen ein Denkmal setzend, regelrecht besingt. Die Sprache selbst wird bei Marica Bodrožić zur Protagonistin und Spiegelung einer Verschmelzung zwischen Prosa, Poesie und Philosophie. Ihre Prosa-Arbeiten sind immer lyrisch durchsetzt, die Gedichte stellenweise erzählerisch verortet.
 
Marica Bodrožić lebte einige Jahre in Frankreich, auf der spanischen Insel La Gomera, in der Schweiz und verbrachte immer wieder viel Zeit in den USA. 2007 wurde ihr erster Dokumentarfilm „Das Herzgemälde der Erinnerung. Eine Reise durch mein Kroatien“, den sie zusammen mit der Filmemacherin Katja Gasser gedreht hat, von 3sat ausgestrahlt. Sie schrieb dafür das Drehbuch und war Co-Regisseurin. Sie ist Mitglied im deutschen PEN-Zentrum und lebt heute als freie Schriftstellerin in Berlin.
 
Heimat als „Verpflichtung zum Unterwegssein“
Die Walter-Hasenclever-Gesellschaft betonte in ihrer Begründung weiter, daß sich Bodrožić besonders der aktuellen Identitätsfrage stelle. Sie definiere Heimat nicht nostalgisch, sondern als eine Verpflichtung zum „Unterwegssein“ in eine „Zukunft“, eine „Ankunft in Wörtern“. Ihre Perspektive liege dabei in einer „Schriftzukunft“, die die „Umzäunung der Biographie“ auflöse. Die Auszeichnung empfinde Marica Bodrožić als „Große Ehre“; sie fühle sich dadurch „auf ihrem geistigen Weg begleitet“, berichtete Johnen aus einem ersten Telefonat mit der Preisträgerin.
 
Ausdrücklich der Geschichte Europas verpflichtet
Olaf Müller, Leiter des Aachener Kulturbetriebs und Jurymitglied, sieht im Werk von Marica Bodrožić vor allem durch die gattungsübergreifende Vielfalt ihrer Ausdrucksformen, der Expressivität der Sprache und dem ethischen Anspruch aus der Vergangenheit für die Zukunft Europas eine große Nähe zu Walter Hasenclever. „Marica Bodrožić ist darüber hinaus eine Autorin, die sich der Geschichte Europas ausdrücklich verpflichtet sieht“, ergänzte er.
Hasenclevers Botschaft für die heutige Zeit übersetzen
Dr. Maria Behre, Lehrerin am Einhard Gymnasium und ebenfalls Mitglied der Jury, sagte: In diesem Jahr runden sich Hasenclevers Geburtsjahr und Todesjahr Deshalb engagieren wir uns besonders in seinem Sinne. Er schrieb nach dem ersten Weltkrieg Texte über die Wirkung des Völkerbundes, des UN-Vorläufers und vertrat in seine Gedichten, Dramen, Romanen und vor allem Essays einen Pazifismus in Europa, der auch heute zu uns spricht. Marica Bodrožić hilft uns, diese Botschaft für die heutige Zeit zu übersetzen.“
 
Auftritte im Rahmen der Preisverleihung
Im Rahmen der Preisverleihung wird Marica Bodrožić bereits am 21. November zu einer Lesung ins Ludwig Forum nach Aachen kommen, am 23. November folgt traditionsgemäß ein Programm mit der Autorin in der Aula des Einhard-Gymnasiums.
 
Walter Hasenclever wurde am 8. Juli 1890 in Aachen geboren und starb am 21. Juni 1940 in einem südfranzösischen Internierungslager. Sein lyrisches Werk sowie sein 1916 uraufgeführtes Drama „Der Sohn“ machten Walter Hasenclever zu einem Exponenten des literarischen Expressionismus.1917 erhielt er den Kleist-Preis, von 1924 bis 1930 lebte er als Journalist in Paris. Während dieser Zeit verfaßte er eine Reihe von Schauspielen, durch die er zeitweilig zum meist gespielten Dramatiker des deutschen Sprachraums avancierte.1930 arbeitete Hasenclever als Drehbuchautor Greta Garbos in Hollywood. 1933 wurden seine Werke in Deutschland verboten. Als Regimegegner auch physisch gefährdet, flüchtete er ins Exil, wo er angesichts der deutschen Kriegserfolge den Freitod wählte.
 
Hasenclever-Preisträger
In seiner jetzigen Form existiert der Walter-Hasenclever-Preis seit 1996. Bisherige Preisträger waren Peter Rühmkorf (1996), George Tabori (1998), Oskar Pastior (2000), Marlene Streeruwitz (2002), F. C. Delius (2004), Herta Müller (2006), Christoph Hein (2008), Ralf Rothmann (2010), Michael Lentz (2012), Michael Köhlmeier (2014), Jenny Erpenbeck (2016) und 2018 Robert Menasse.
 
Der Preis wird getragen von der Walter-Hasenclever-Gesellschaft, dem Einhard-Gymnasium - der ehemaligen Schule Hasenclevers -, dem Aachener Buchhandel und der Stadt Aachen. Dem Kuratorium gehört auch ein Vertreter des Deutschen Literaturarchivs in Marbach an, das den Nachlaß Hasenclevers pflegt und sich als Hauptträger am Preis beteiligt. Der Preis ist mit 20.000 Euro dotiert.
 
Redaktion: Frank Becker