Räume

von Erwin Grosche

Foto © Harald Morsch

Räume
 
Es gibt Räume, da dürfen sie das nicht machen“, sagte der Mann mit dem weißen Kittel. Doktor Lümi hatte gerade angefangen sich zu strecken und wollte dann ausgiebig gähnen, um seine Müdigkeit abzuschütteln. „Ist das so ein Raum?“, fragte Doktor Lümi. Der Mann nickte. „Das ist kein Gähnraum“, sagte er. „Die Gähnräume sind am Ende des Ganges.“ Doktor Lümi hatte den Urlaub nur angetreten, um seine Reflexe zu steigern. Ihm war aufgefallen, daß er in letzter Zeit manchmal nicht lachte, obwohl vieles lustig gewesen war. Er schüttelte verwirrt den Kopf, obwohl er sich nicht sicher war, ob das hier wenigstens erlaubt war. „Ist das denn hier ein Kopfschüttelraum?“, fragte er. Der Mann rieb sich mit großen Händen das Gesicht. „Sie sind hier fremd“, sagte er, „da machen wir schon mal Ausnahmen, aber der Raum wird auch nicht zum Kopfschütteln genutzt.“ Der Mann machte eine Pause, um Doktor Lümi die Möglichkeit zu geben eine Frage zu stellen, aber Doktor Lümi blieb lieber stumm.  „Dies ist ein Fensterschau-Raum“, sagte der Mann schließlich. „Man steht hier am Fenster und schaut heraus. Der gesamte Ausblick wurde nach den Plänen von Colani gestaltet.“ Doktor Lümi schaute aus dem Fenster. Eine nackte Frau mit langen blonden Haaren saß auf einem Einhorn und ritt über eine Klatschmohnwiese. Er wollte anerkennend pfeifen, aber wußte, daß der Pfeifraum heute mal wieder im Keller war und von ehemaligen FDP-Politikern genutzt wurde. Er schaute der Frau auf dem Pferd nach und spürte wieder seine Reflexe erwachen. „Typisch Colani“, dachte er verlegen. „Typisch Colani.“
 
 
© Erwin Grosche 2020