Schmetterlinge

Katrine Engberg – „Glasflügel“

von Frank Becker

Schmetterlinge
 
Der dritte Fall für Jeppe Kørner und Anette Werner
 
Ein aufsehenerregender Mord erschüttert Kopenhagen: Im Caritasbrunnen auf dem Gammeltorv, mitten in Kopenhagen, dümpelt am frühen Herbstmorgen eine nackte, ausgeblutete weibliche Leiche, die dort im strömenden Regen zwischen 5 und 6 Uhr abgelegt worden sein muß, denn der öffentliche Fundort kann nicht der Tatort gewesen sein. Überwachungs-Videos zeigen, daß sie mit einem Lastenfahrrad dorthin geschafft wurde. Die Mord-Methode erweist sich nach der Obduktion als besonders perfide – und es wird weitere Opfer geben.
     Jeppe Kørner muß diesmal (zunächst) ohne die Hilfe seiner Kollegin Anette Werner auskommen, die nach der Geburt ihres ersten Kindes in Elternzeit gegangen ist. Doch nagt die Neugier an dem Fall so sehr an ihr, daß sie sich gegen jeden Rat und Befehl und zum erheblichen Nachteil ihres Familienlebens privat in die Ermittlungen einmischt. Katrine Engberg läßt die Heldin ihrer ersten zwei Kopenhagen-Krimis dabei in einem denkbar unguten Licht erscheinen. Es wirkt einschließlich des Romanausgangs beinahe so, als wolle sie die Figur aus dem Ermittler-Team „rausschreiben“. Aber das wird sich ja im vierten Fall für Jeppe Kørner zeigen.
     Sehr bald finden wir uns bei der Lektüre im Krankenhaus-Milieu, insbesondere im Bereich der Jugendpsychiatrie – und ebenso bald werden sowohl auffällige Querverbindungen der Mordopfer dorthin als auch solche von etlichen (Zeit-)Zeugen deutlich. Die Spuren laufen auf den Zusammenhang mit der vor Jahren geschlossenen zwielichtigen Einrichtung „Sommerfugl“ (Schmetterling) für psychiatriebedürftige Jugendliche zu und auf Leute, die dort ihre eigene Vorstellung von Fürsorge und kommerziellem Erfolg hatten. Nach und nach wird ein Geflecht von Abhängigkeiten, Schuld und Lügen sichtbar, in dessen Zentrum das dritte Mordopfer Rita Wilkins und der Psychiater Peter Demant standen. Der Suizid einer damaligen Patientin und der scheinbare Unfalltod eines engagiertem Pflegers werfen ein umso düsteres Lich auf „Sommerfugl“. Einen nicht geringen Raum nimmt im Roman die Kritik am System der Psychiatrie, aber auch am Pflegenotstand in Krankenhäusern allgemein ein.

     Wie stets geizt Katrine Engberg nicht mit Personal – die bewährten Ermittler Jeppe, Anette, Sara Saidani, Falck, Thomas Larsen und das übrige Team kennen wir ja schon, Jeppes alte Freundin, die Schriftstellerin Esther de Laurenti und ihren Mitbewohner Gregers ebenfalls. Auch sie tauchen in einer von mehreren nicht unbedeutsamen Nebenerzählungen auf. Dazu gibt es jede Menge Zeugen, zahlreiche wichtige Randfiguren und einige Verdächtige mit Motiv und Potential. Da hat es schon Sinn, ihren dritten Kriminalroman um das Team der Kopenhagener Kriminalpolizei mit Notizblock und Stift neben sich zu lesen. Auch einen Stadtplan Kopenhagens griffbereit zu haben, kann nicht schaden.
     Es hat sich in Kriminalromanen und –filmen bedauerlicherweise eine Mode entwickelt, Ermittlerinnen (hier Anette Werner) ins Zentrum zu stellen, die sich und andere aus purem Egoismus oder Trotz durch Eigenmächtigkeit, vorbei an klaren Anweisungen und grundsätzlichen Regeln der Polizeiarbeit, durch irrationales Verhalten, Mangel an Teamgeist und permanente Insubordination erheblich in Gefahr bringen. Das mag Spannungsmomente haben, macht die Protagonistinnen aber nicht sympathisch. Schade, daß sich auch Katrine Engberg darauf einläßt. Das verwässert ein wenig die Freude an ihrem – auch in den Nebenhandlungen – ansonsten raffiniert gesponnenen Krimi, den sie durch allerlei falsche Fährten und überraschende Wendungen, wenn auch zum Teil nicht unbedingt rational, stets unter Spannung hält.
 
Katrine Engberg – „Glasflügel“
(Glasvinge) Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg
© 2020 Diogenes Verlag, 427 Seiten, gebunden, Schutzumschlag - ISBN: 9783257071238
20,- €
Weitere Informationen: www.diogenes.ch