„Davon glaube ich kein Wort!“

Max Delbrück in der Anekdote (6)

von Ernst Peter Fischer

Ernst Peter Fischer
„Davon glaube ich kein Wort!“
 
Max Delbrück in der Anekdote (6)

 Von Ernst Peter Fischer

Ein Homo scientificus
 
Als Delbrück bei Bohr war, lockte den jungen Mann der Vorschlag des Weisen aus Kopenhagen, den Versuch zu unternehmen, die Erfolge der Physik aus den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts im Rahmen der Biologie zu wiederholen und „Licht und Leben“ zusammen zu verstehen, wie eine Vorlesung hieß, die Bohr zu Beginn der – politisch schwieriger werdenden – 1930er Jahre hielt. Delbrück agierte erfolgreich, und 1969 durfte er nach Stockholm reisen, um den Nobelpreis für Medizin entgegenzunehmen. Delbrück freute sich nicht nur der Ehrung wegen auf diese Reise, sondern auch, weil im gleichen Jahr der Nobelpreis für Literatur an Samuel Beckett verliehen wurde und er ein gieriger Leser der Werke des Iren war.
Delbrück wollte schon lange von Beckett Auskunft über eine Stelle in seinem Roman Molloy haben, und er hoffte, sie jetzt in Stockholm zu bekommen. Der Biologe wollte wissen, ob Beckett mit seiner Figur Molloy etwas über die Menschen aussagen wollte, die ihrer Natur nach Wissenschaftler sind und nicht anders leben können, als hinter der Wahrheit her zu sein. Delbrück meinte konkret die Stelle, an der Molloy seine Tage an einem Strand vergammelt und mit Steinen spielt, die er findet und in seine zahlreichen Manteltaschen stopft, um sie immer wieder hervorholen und der Reihe nach lutschen zu können.
Molloy möchte nun seine Lieblingssteine so oft es geht lutschen, aber nicht immer und ausschließlich, und dazu benötigt er ein Ordnungssystem, um das er sich redlich bemüht und das ihn glücklich macht, als er es endlich gefunden hat. Im selben Moment ändert sich allerdings Molloys Stimmung. Denn nach der Lösung verliert er die Lust am Lutschen. Er wirft die Steine weg, um sich etwas Neuem zuzuwenden.
 
Delbrück fand, so müsse man sich einen Homo scientificus vorstellen, der durch eine Umkehrung charakterisiert ist. Nicht er stellt der Wahrheit nach, vielmehr stellt die Wahrheit ihm nach. Sie jagt ihn, sie treibt ihn auch an den fernsten Stränden dazu, ein kaum praktisches und den meisten Menschen eher fern stehendes Problem zu formulieren, das unablässig verfolgt wird, um es nach einer zufriedenstellenden Lösung aufzugeben und sich der nächsten Frage zuzuwenden, die sich der stets wachen Aufmerksamkeit stellt. Das zu Findende und der Wille zum Verstehen treiben einen wissenschaftlichen Menschen an, unabhängig davon, ob er sich in einem Laboratorium oder an einem Strand aufhält, ob er mit Atomen oder Steinen hantiert. So sah es Delbrück, und er wollte Beckett in Stockholm fragen, ob er seinen Molloy auch so gesehen und konzipiert habe und im Roman zeigen wollte.
 
Leider ist der Dichter nicht nach Schweden gekommen und hat lieber Ferien in Tunesien verbracht, wobei Delbrück imponierte, dass Beckett dem Nobelkomitee nur geschrieben hatte, „Ich komme nicht“, während doch jeder andere diesen drei Worten noch etwas zu seiner Entschuldigung hinzugefügt hätte, „Ich komme nicht, weil ich etwas anderes vorhabe, das sich nicht aufschieben läßt“ und so weiter. Unabhängig davon gab Delbrück nicht auf, nachdem es in Stockholm nicht geklappt hatte. Viele Jahre später gelang es ihm, Beckett in Berlin zu treffen, der hier eines seiner Stücke inszenierte, während Delbrück Forschungsinstituten Besuche abstattete. Über verschlungene Umwege wurde ein Treffen der beiden an der Spree arrangiert, und der Biologe begann sofort, seine Frage zu stellen und seine Sicht der wissenschaftlichen Dinge ausführlich zu erläutern, und er fragte, ob Molloy als Homo scientificus konzipiert sei. Beckett hörte ruhig zu, sagte dann nur „Nein“, fügte noch hinzu, er habe an etwas anderes gedacht, und wollte möglichst rasch zurück ins Theater, zu seinen Proben. Er konnte wohl nicht anders.
 
 
© Ernst Peter Fischer
Aus: „Davon glaube ich kein Wort!“
Anekdoten und Geschichten aus der Welt der Wissenschaft
 Redaktion: Frank Becker