Eine strahlende Zukunft

Fred Pearce – „Fallout“ oder Die Illusion der Aktentasche über dem Kopf

von Frank Becker

Duck and Cover?
 
oder
 
Die Illusion der Aktentasche über dem Kopf
 
Was sich die Menschheit in den zurückliegenden 75 Jahren mit der (Aus-)Nutzung der Kernenergie angetan hat, ist im Grunde mit Worten nicht zu beschreiben, weil selbst starke Worte in diesem Zusammenhang schwach sind. Fred Pearce hat es dennoch unternommen, die Sünden, Fehler, Lügen, Verbrechen, Katastrophen, Unfälle und Vertuschungen in (fast) allen Staaten des Atom-Clubs zu untersuchen und nicht von Emotionen belastet äußerst sachlich zu protokollieren – eine Chronik des nuklearen Zeitalters. Brutaler Machtmißbrauch und schlimmstes Versagen von Wissenschaft und Politik sind und waren immer die Auslöser für irreversible Folgen. Wenn ich von in fast allen Staaten spreche, schließt das hinsichtlich der Atomrüstung und möglicher Unfälle bei der Herstellung von Bomben oder bei der zivilen Nutzung der Atomenergie einige nicht unwichtige Staaten aus. Wir erfahren aus seinem Buch nichts darüber betreffend Indien und Pakistan, Israel und den Iran, selbstverständlich auch nichts aus dem hermetisch abgeriegelten Nordkorea und aus China, dem Land mit der größten Armee der Erde.
 
Umso deutlicher und mit Zahlen und Fakten belegt zeichnet Fred Pearce die Entwicklung und den Einsatz der ersten amerikanischen Atombombe, den Rüstungswettlauf zwischen den konkurrierenden Westmächten USA, Großbritannien und Frankreich einerseits und der Sowjetunion anderseits. Er belegt mit erschreckenden Zahlen die vorsätzlichen Umweltverbrechen, die von allen genannten Staaten dabei begangen wurden – wobei sich die Sowjets völlig rücksichtslos gegen die eigene Bevölkerung erwiesen, während Amerikaner nach Versuchen im eigenen Land und Briten und Franzosen in ihren Kolonien nach Gutsherrenart entlegene pazifische Regionen mit Plutonium & Co. für immer zerstörten und mit dem Fallout ihrer gigantischen Atomexplosionen vergifteten. Stichworte wie Hiroshima, Nagasaki, Bikini-Atoll, Mururoa-Atoll, Semipalatinsk und Majak stehen für den hemmungslosen Mißbrauch von Physik und Naturgesetzen, für die Gier nach Macht um jeden Preis. Immer explosivere, immer giftigere Stoffe wie eben Plutonium, Cäsium, Polonium u.a.m. wurden zu keinem anderen Zweck entwickelt, als Menschen umzubringen. Daß der russische Geheimdienst diese Gifte auch gerne als Mordwaffen gegen Systemgegner einsetzt, ist allgemein bekannt. Unfälle im Zusammenhang mit den jahrzehntelangen Versuchen wurden planmäßig vertuscht, betroffene Bevölkerungen belogen und ihren Strahlenerkrankungen und Krebs-Folgen überlassen.
 
Kaum weniger verbrecherisch und/oder verantwortungslos gingen und gehen bis auf den Tag vor allem Russland, die USA, Großbritannien, Frankreich mit der sogenannten zivilen Nutzung der Kernenergie um. Sellafield, Windscale, Hanford, Three Mile Island, Tschernobyl, Fukushima, stehen für Atomunfälle, die man unter dem Begriff GAU (größter anzunehmender Unfall) einordnen muß – Namen, die nicht mehr nur Standorte bezeichnen, sondern für Katastrophen, die weite Landstriche unbewohnbar gemacht und immense materielle wie immaterielle Kosten verursacht haben, für den Verlust von Leben, Gesundheit und vor allem – von Vertrauen. Regierungen wissen um die Gefährlichkeit von Kernkraftwerken, nicht grundlos bauen sie ihre Atommeiler gerne an entlegenen Stellen, vorzugsweise an den Grenzen zu Nachbarn. Auch das kleine Deutschland, Stichwort Gorleben bekleckert sich trotz des beschlossenen Ausstiegs nicht mit Ruhm, denn wir hocken hierzulande auf für Millionen Jahre strahlendem Material und wissen nicht, wohin damit. Pearce nennt zugänglich gewordene Zahlen von bei Atomunfällen an der Strahlung erkrankten und gestorbenen Menschen, wobei vermutlich die Dunkelziffer viel höher liegt. Er berichtet von Atom-U-Booten, die von den Russen samt Reaktoren vor ihren und Norwegens Küsten im Nordmeer versenkt worden sind, von strahlenden Deponien, Sümpfen und Wasserläufen, von bereits jetzt leck geschlagenen unterordischen Deponien und Zwischenlagern, ist aber auch sachlich genug, auf die erstaunliche Widerstandskraft vieler einzugehen, die der Strahlenbelastung an einigen Orten trotzen.
 
Aus dem Verlagstext: „In seiner fesselnden und hervorragend recherchierten Reportage untersucht Fred Pearce die größten atomaren Desaster der letzten 70 Jahre und bereist die ikonisch gewordenen Orte. Er besichtigt mit Wissenschaftlern und Ingenieuren stillgelegte Reaktoren und verlassene Testareale, entdeckt auf verseuchtem Brachland radioaktive Wölfe und mutierte Pflanzen, aber auch eine überraschende Widerstandskraft der Natur. Überlebende, Ärzte und Aktivisten erzählen ihm, was staatliche Verschleierungen, Täuschungen durch Konzerne und die Vertuschung medizinischer Erkenntnisse physisch und psychisch angerichtet haben.“
Es ist ein gut lesbares und auch für Laien verständliches Sachbuch, das alles Wichtige kompakt beim Namen nennt, wenn es auch scheinbar Marginales ausläßt. Sehr empfehlenswert für Leser, die gut informiert ins Thema einsteigen möchten.
 
Fred Pearce – „Fallout“
Das Atomzeitalter - Katastrophen, Lügen und was bleibt - Übersetzt von Tobias Rothenbücher
© 2020 Verlag Antje Kunstmann, 342 Seiten, gebunden, Schutzumschlag, Glossar, Quellenverzeichnis und Index -  ISBN: 978-3-95614-359-5
25,- €
Weitere Informationen: www.kunstmann.de
 
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