„Vor meinem Vaterhaus steht eine Linde“

Ein populäres Lied und seine alten Wurzeln

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
 
„Vor meinem Vaterhaus steht eine Linde“
 
Ein populäres Lied und seine alten Wurzeln
 
Von Heinz Rölleke
 
 
Mein Vater kam 1902 im westfälischen Obermarsberg zur Welt und wuchs in einem alten Fachwerkhaus auf, knapp 500 Meter von dem vermuteten Standort der Irminsul entfernt  -  das bedeutendste altsächsische Heiligtum hatte Karl der Große 772 zusamt der Eresburg zerstört. Vor meines Vaters Elternhaus stand eine stattliche Linde, flankiert von zwei mächtigen Kastanien.
Seit er 1920 auf Arbeitssuche zunächst ins Ruhrgebiet und dann ins Rheinland kam, ist er nie mehr auf Dauer in seine Heimat zurückgekehrt.
 
Seit Mitte der Dreißigerjahre hörte er das nachmals und teilweise bis heute weit bekannte Lied „Vor meinem Vaterhaus steht eine Linde“, wahrscheinlich in einer Schallplattenaufnahme des legendären Volks- und Heimatsängers Willy Schneider. Das Lied war 1934 entstanden (Text: Bruno Hardt-Warden; Melodie: Robert Stolz). Tonaufnahmen u.a. von Gottlob Frick, Hermann Prey, Nana Mouskouri oder Heino tragen das Lied bis in die Gegenwart. Zeitlebens hat mein Vater es für sich gesungen, so daß es auch schon früh für mich ein Ohrwurm wurde. Ihn überkam dabei anscheinend immer ein gelindes Heimweh, und schließlich behauptete er halb ernsthaft, des Textdichters Inspiration für seine vage Lokalisierung der Linde gehe auf einen Besuch Obermarsbergs zurück.
 
            „Vor meinem Vaterhaus steht eine Linde,
            Vor meinem Vaterhaus steht eine Bank,
            Und wenn ich sie einst wieder finde,
            Dann bleib ich dort mein Leben lang.
            Dann wird die Linde wieder rauschen
            Ihr liebes altes Heimatlied,
            Mein ganzes Herz wird ihr dann lauschen
            […]
            Wer weiß, wer weiß, wann das geschieht!
            [...]
            Vor meinem Vaterhaus, da steht ein Brunnen,
            Sein Wasser rinnt und rauscht so silberhell.
            Die Mädchen gehn zu diesem Brunnen,
            Erzählen sich vom Liebsten schnell.“
 
Schaut man sich einige Ingredienzien des Textes näher an, so stellt man einigermaßen verblüfft fest, daß sie aus älteren, zum Teil geradezu ehrwürdigen Traditionen stammen und wohl etwas über die literarischen Kenntnisse des österreichischen Autors erkennen lassen. Da liest man im 1857 veröffentlichten Bildungsroman des Böhmen Adalbert Stifter „Der Nachsommer“:
 
            „Daß Bänke unter den Linden standen, ist natürlich. Die Linde ist der Baum der Wohnlichkeit. Wo wäre eine Linde in deutschen Landen […], unter der nicht eine Bank stände […]. Die Schönheit ihres Baues, das Überdach ihres Schattens und das gesellige Summen des Lebens in ihren Zweigen ladet dazu ein. Wir gingen in den Schatten der Linden. 'Das ist eigentlich der schönste Platz […]'.“
 
Zuvor hatte Heinrich Heine in seiner „Romantischen Schule“ den französischen Lesern seine Affinität zu volkstümlichen Liedern (die er mit Stifter teilte) mit dem Motiv der Linde erklärt, wenn er von seiner ungeteilten Hochachtung für die romantische Liedersammlung „Des Knaben Wunderhorn“ spricht:
 
            „In diesem Augenblick liegt dieses Buch vor mir, und es ist mir, als röche ich den Duft der deutschen Linden. Die Linde spielt nämlich eine Hauptrolle in diesen Liedern, in ihrem Schatten kosen des Abends die Liebenden, sie ist ihr Lieblingsbaum, und vielleicht aus dem Grunde, weil das Lindenblatt die Form eines Menschenherzens zeigt. Diese Bemerkung machte einst ein deutscher Dichter, der mir am liebsten ist, nämlich ich.“
 
Um das Jahr 1200 hatte der österreichische Dichter Walther von der Vogelweide schon das Heine'sche Bild von den Liebenden unter der Linde in eines seiner berühmtesten Mädchenlieder gebracht:
 
            „Under der linden                              „Unter der Linde
            an der heide,                                      auf der Heide,
            dâ unser zweier bette was,                 wo unser beider Liebeslager war,
            […]                                                                […]
            dô was mîn friedel komen ê              da war mein Liebster schon da
            […]                                                                […]
            Kuste er mich? Wol tûsendstunt.       Küßte er mich? Wohl tausendmal.
 
Wilhelm Grimm, der diese Literatur sehr gut kannte, hat sie verdeckt in den  „Froschkönig“, das erste Märchen in der Grimm'schen Sammlung der „Kinder- und Hausmärchen“ eingebracht. Die Königstochter begegnet ihrem künftigen Bräutigam an einem Brunnen oder einem Quell im Wald, in dem merkwürdigerweise eine Linde postiert ist.
 
Linden, Bänke, Brunnen, Liebende – immer wieder begegnen diese Motive vereinzelt oder versammelt in der deutschen Literatur vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert. Man hat erkannt, daß sie ursprünglich Requisiten des sogenannten „locus amoenus“ sind. Das ist ein literarischer Topos, der seit der Antike begegnet. Schon vor Walther von der Vogelweide schildert Herbort von Fritzlar einen solchen Ort mit schattenspendender Linde, einem klaren Wasser, schönen Blumen und Vögeln. Selbst bei der Ermordung Siegfrieds unter einer hohen Linde (vielleicht ein Motivreim zum Lindenblatt, das einst auf seinen Rücken fiel und ihm damit fatalerweise die einzig verwundbare Stelle bescherte) im „Nibelungenlied“ (um 1200) wird mit der Erwähnung dieses Baumes, einer Quelle und der „bluomen“, in die der sterbende Held sinkt, ein locus amoenus angedeutet.
 
Die Linde gehört in Deutschland neben der Eiche zu den beliebtesten und am häufigsten besungenen Bäumen. Ihre Bekanntheit verdankt sie dem Wuchs ihres Stammes und ihres Blätterdachs. Das von Heine erwähnte „Wunderhorn“ bringt es mit einem seit dem 16. Jahrhundert belegten Volkslied auf die einfachste Formel:
 
            „Es sah eine Linde ins tiefe Tal,
            War unten breit und oben schmal,
            Worunter zwei Verliebte saßen,
            Vor Lieb ihr Leid vergaßen.“
 
Die Linde ist sowohl als Ort für Bürger- oder Gerichtsversammlungen, für Tänze des feiernden Volkes und vor allem für Liebespaare bestens geeignet. Ihr hoher Stamm bietet unten Platz, das dichte Laubdach oben spendet Schutz vor Regen und Sonnenschein sowie vor allem Sichtschutz für die Liebespaare. „Unter der Linde pflegen wir zu trinken, zu tanzen, fröhlich zu sein, denn die Linde ist unser Friede- und Freudebaum“, sagt Martin Luther. In der Szene „Bauern unter einer Linde“ heißt es in Goethes „Faust“:
 
            „Schon um die Linde war es voll;
            Und alles tanzte schon wie toll.
            […]
            Und hurtig in dem Kreise ging's,
            Sie tanzten rechts, sie tanzten links,
            Und alle Röcke flogen.
            Sie wurden rot, sie wurden warm
            Und ruhten atmend Arm in Arm
            […]
            Und von der Linde scholl es weit:
            Geschrei und Fiedelbogen.“
 
Es wird deutlich, wie solche seit Jahrhunderten topische Motive noch Liedproduktionen des 20. Jahrhunderts beeinflußt haben, auf welchen Wegen sie auch immer zu den modernen Schriftstellern gelangt sind.
 
Das Lied von Hardt-Warden und Stolz beruft schon im ersten Vers „eine „Linde“, später einen „Brunnen“ mit silberhellem „Wasser“ und schließlich die „Mädchen“, die sich unter der Linde, am traditionellen locus amoenus natürlich ihres „Liebsten“ erinnern. Einer dieser fernen Geliebten, dem das Lied in den Mund gelegt ist, war einst aus der Heimat fortgezogen, warum auch immer – und er erinnert sich voller Heimweh an die glücklichen Stunden unter der Linde, am Brunnen mit seinem Mädchen. „Doch kehr ich heim, dann wird sie lachen, / und aller Schmerz und Kummer flieht“ - diese Vorstellung erweist sich spürbar als Utopie, denn das Lied endet mit der resignativen Frage „Wer weiß, wer weiß, wann das geschieht.“ 
 
Die Aussicht oder Absicht, je in ihre dörfliche Heimat zurückzukehren, war wohl sehr gering für die vielen in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg in die Städte der Industriegebiete Ausgewanderten („In dieser fremden großen Stadt,/ In diesem Meer aus Stein,/ Da grüßt dich kaum ein Blütenblatt“). In dieser Hinsicht bietet der etwas biedermeierlich daherkommende Liedtext ein breites Identifikationsangebot, das bei populären Liedern immer über deren Erfolg entscheidet.
 
Daß solcher Erfolg indes nicht nur durch die Imagination einer gegenwärtigen Situation, sondern auch durch den unerkannten oder unbewußten Transport alter Motive und symbolgeladener Requisiten gestützt ist, läßt sich an diesem Lied wohl erweisen.
 
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2020
 
 Redaktion: Frank Becker