„Weltende“ und „Menschheitsdämmerung“

Vor 100 Jahren erschien die erste Anthologie expressionistischer Lyrik

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
„Weltende“ und „Menschheitsdämmerung“
 
Vor 100 Jahren erschien die erste Anthologie
expressionistischer Lyrik
 
Von Heinz Rölleke

Im Jahr 1959 begann ich mein Germanistik-Studium an der Universität zu Köln. Für mein drittes Semester wurde dort zum ersten Mal überhaupt ein Seminar „Lyrik des Expressionismus“ angeboten, das ich weniger aus wissenschaftlichem Interesse als aus Neugier besuchte. - Deutschsprachige Dichtungen aus der nur ein Jahrzehnt umfassenden Epoche (1909-1919) waren mir wie den meisten Seminarteilnehmern und auch manchen Dozenten bis dato nicht begegnet. Im Deutschunterricht an Schulen wie bei der universitären Ausbildung künftiger Lehrer endete die Beschäftigung mit der deutschen Literaturgeschichte jahrzehntelang mit Theodor Fontane (gestorben 1898) und der Epoche des Naturalismus (1880-1900). - Nun war der Andrang zu diesem Seminar überwältigend, und jeder Teilnehmer hatte ein gerade erschienenes Taschenbuch mit dem Titel „Menschheitsdämmerung“ zur Hand.
 
Die expressionistischen Dichter hatten zu ihrer Zeit wegen ihrer angeblich chaotischen Formzertrümmerung, ihrer ungewohnt drastischen Motive und Themen sowie wegen ihrer revolutionären Tendenzen wenig Gegenliebe bei Buchverlegern wie vor allem beim bürgerlichen Lesepublikum gefunden, die sich durch diese Kunst mehrheitlich provoziert und düpiert fühlten. Auch die Hochschulgermanistik, die insgesamt noch auf die Zeit zwischen der Staufischen und der Weimarer Klassik (also zwischen 1200 und 1832) fixiert war, überging oder verachtete gar die neue expressionistische Kunst, weil ihr scheinbar mit den herkömmlichen wissenschaftlichen Methoden nicht beizukommen war.
 
Nachdem die bedeutendsten Lyriker früh verstorben waren (Georg Heym durch einen Unfall, Ernst Stadler, Alfred Lichtenstein, August Stramm und Georg Trakl als Opfer des Ersten Weltkriegs) oder sich anderen Formsprachen zugewandt hatten (etwa Franz Werfel oder Gottfried Benn), brach die Entwicklung der neuen Kunstform abrupt und geradezu radikal ab (eine kontinuierliche Weiterentwicklung wie sie etwa 200 Jahre zuvor vom „Sturm und Drang“ zur Frühklassik - exemplarisch an den Dichtungen Goethes und Schillers ablesbar – ergeben hatte, fand nicht statt). Es gab auch in der Folge keine genuine Rezeption dieser letzten geschlossenen Epoche der deutschen Literaturgeschichte; stattdessen häuften sich die geradezu bösartigen Parodien und Abneigungsbezeugungen. Die Nationalsozialisten hatten auf diesem Feld leichtes Spiel, als sie die immer noch modernste Literatur (wie auch Musik und Malerei) als Entartete Kunst brandmarkten und schließlich brutal verfolgten. Erst ein Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg begann man zögerlich, sich der verfemten Epoche zuzuwenden. Frühe Studien außerdeutscher Literaturwissenschaftler zogen zunächst fatale Konsequenzen aus der Kongruenz der Geburtsjahre expressionistischer Dichter und Personen wie Adolf Hitler oder Martin Heidegger: Die Gewalt- und Katastrophenphantasien des Expressionismus seien als eine Vorstufe der nationalsozialistischen Ideologie und ihrer Greueltaten aufzufassen und zu interpretieren.
 
Eine angemessenere Erforschung und Bewertung des expressionistischen Jahrzehnts setzte in Deutschland erst zögerlich ein, dann

© Rowohlt Verlag 1959
aber vehement nach dem Taschenbuch-Neudruck einer erstmals 1919/20 erschienenen Anthologie: „Menschheitsdämmerung. Ein Dokument des Expressionismus, neu herausgegeben von Kurt Pinthus. Hamburg 1959.“ Zwar war diese vierzig Jahre zuvor und auch damals schon vom Rowohlt-Verlag betreute Zusammenstellung expressionistischer Lyrik seinerzeit ein überraschender Erfolg (nach der Erstauflage von 5000 Exemplaren, verzeichnete die vierte Auflage von 1922 schon einen Gesamtverkauf von 20.000 Stücken); danach aber brach die Erfolgsgeschichte des Buches unter anderen aus den oben genannten Gründen ziemlich abrupt ab. Was Kurt Pinthus 1959 vorlegte, war eine gegenüber der Erstauflage nicht unwesentlich erweiterte biographische Erläuterung zu den hier nach wie vor versammelten zweiundzwanzig Dichtern und einer Dichterin (Else Lasker-Schüler, die auch hinsichtlich ihres Geburtsjahrs 1869 eine Ausnahme war und blieb). Die Anthologie fand reißenden Absatz: Bis 1968 waren 80.000 Exemplare verkauft (für Lyrik eine geradezu sensationelle Zahl), und die DDR gestattete seinerzeit eine Lizenzauflage im Leipziger Reclam-Verlag. Seitdem gehört das Buch bis heute unangefochten zum literarischen Kanon.
 
Pinthus hat die 275 Gedichte weder namentlich noch chronologisch, sondern nach bestimmten Themen in vier Gruppen geordnet. Den zündenden Titel hat er wohl mit Bezug auf die Wagner'sche „Götterdämmerung“ gewählt - wie in der Oper der Untergang der germanischen Götter geschildert wird, so hier in vielen Gedichten der drohende Untergang der Menschheit. Im Titel der Oper wie dem der Anthologie kann man jeweils den zweiten Teil des Kompositums als Abenddämmerung, das Verdämmern in einen bevorstehenden oder schon einbrechenden Untergang verstehen, aber auch als Hinweis auf eine Morgendämmerung, das Heraufdämmern eines allerdings noch nicht klar erkennbaren Neuanfangs: in der Oper durch die beschließende Szenenanweisung, in der Anthologie durch die die Sammlung beschließenden Gedichte unter dem Obertitel „Liebe den Menschen“. Nach Untergangsvisionen heißt es in Trakls Gedicht „Gesang des Abgeschiedenen“:
 
            „Liebend auch umfängt das Schweigen im Zimmer die Schatten der Alten,
            Die purpurnen Martern, Klage eines großen Geschlechts,
            Das fromm nun hingeht im einsamen Enkel.“
 
Pinthus faßte die erste Gruppe der von ihm edierten Gedichte unter dem Titel „Sturz und Schrei“ zusammen. Es steht dahin, ob ihn dazu das von ihm an die Spitze gestellte Gedicht „Weltende“ angeregt hatte, denn in diesem Achtzeiler ist von 'stürzenden' Handwerkern und von undefinierbarem „Geschrei“ die Rede.
 
                                   Jakob van Hoddis
 
                                    Weltende
 
            Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
            In allen Lüften hallt es wie Geschrei.
            Dachdecker stürzen ab und gehen entzwei,
            Und an den Küsten - liest man - steigt die Flut.
 
            Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
            An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
            Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
            Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.
 
Formal zeigt das Gedicht mit seinen reinen Reimen und dem durchgängigen fünfhebigen Metrum keine Besonderheiten, wenn man nicht den scheinbar sorglosen und unmotivierten Übergang vom umarmenden Reim in Strophe eins zum Kreuzreim in Strophe zwei sowie von der Veränderung der Reimfolge
(a - b -b -a / c – d - d -c) und der Kadenzen (in Strophe 1 sämtlich einsilbig stumpf, in Strophe 2 zweisilbig klingend) absieht. Konventionelle Ausschmückung einzelner Verse finden sich nur noch ganz sporadisch (etwa die sehr unauffällig gesetzten „D“- und „M“-Alliterationen: „ um dicke Dämme [zu zer]drücken“ und „die meisten Menschen“). Auch das Vokabular bleibt durchgängig konventionell. Was das kleine Gedicht trotzdem zu einer Musterkarte der neuen Bewegung macht, sind sein Thema, seine Motive und deren stilistische Präsentation. Diese folgt erkennbar dem Stil der zeitgenössischen Boulevard-Presse oder der Eigenart von Bild-Sequenzen im neuen Medium des Stummfilms. Alles wird simultan und in scheinbar beliebiger, provokant zufälliger Anordnung vorgestellt. Die einzige thematische Verbindung ergibt sich groteskerweise ausgerechnet durch ein die Strophengrenze ignorierendes Enjambement: Das Motiv der „(Sturm)Flut“ am Ende der ersten Strophe wird in den beiden durch Enjambement verbundenen Eingangsversen der zweiten Strophe weitergeführt.
 
Das Gedicht des seinerzeit in Berlin lebenden Autors (geboren 1887, wahrscheinlich 1942 in einem deutschen Vernichtungslager in Polen ermordet) war zunächst schon durch Vortrag im „Neopathetischen Cabaret“ bekannt geworden, ehe es im Januar 1911 erstmals und dann 1918 sowie 1920 im Druck erschien und schließlich durch seine Plazierung an der Spitze der „Menschheitsdämmerung“ weithin bekannt geworden und bis heute geblieben ist. Es soll in expressionistischen Kreisen Berlins als eine Art Schibboleth gegolten haben: Fußgänger riefen sich über die Straße hinweg wechselweise einige Verse zu, woran man einander als antibürgerlich Verbündete innerhalb der neuen Kunstbewegung erkannte.
 
Im Folgenden soll, dem Textablauf folgend, eine kurze Interpretation versucht werden.
 
Der Titel verdeutlicht, daß es sich hier um eine Situation vor dem offenbar bevorstehenden Weltuntergang handelt, die dann auch

© Rowohlt Verlag 1920
teilweise mit apokalyptischen Motiven (allerdings in wunderlich verfremdeter Form) in Parallelen zur Bilderwelt, wie sie aus der „Geheimen Offenbarung“ des Neuen Testaments bekannt ist, angedeutet sind. Für die Zeitgenossen bezog sich die Überschrift darüber hinaus konkret und aktuell auf die Weltuntergangsängste vor dem richtig vorhergesagten Erscheinen des Halley'schen Kometen am 19. Mai 1910. Auch dieses Thema erscheint insgesamt in groteskem Licht.
 
Im ersten Vers wird ein Bürger (gemeint ist die ganze bürgerliche Gesellschaft, gegen die sich viele Expressionisten in Stellung gebracht hatten) in der Dativform vorgeführt, er ist nicht ein handelndes Subjekt, sondern einer dem im Rahmen der Untergangsvision etwas eher Harmloses geschieht: Die gutsituierten bürgerlichen Männer gingen seinerzeit „mit Hut“ aus; die Proletarier trugen (Ballon)Mützen oder gingen barhäuptig. Der „Sturm“, der direkt erst am Beginn der zweiten Strophe erscheint, ist offenbar hier schon am Werk. Er reißt dem Bürger sein Statussymbol weg. Mit dem „spitzen Hut“ wird vielleicht auf den Dreispitz angespielt, eine nach oben zugespitzte Mütze, die unter anderem vom preußischen Militär getragen wurde; das würde unterschwellig suggerieren, daß auch die uniformierte Staatsgewalt im aufkommenden Sturm einen Teil ihrer Würde verlöre. Wenn diese Kopfbedeckung wegfällt, kommt des Bürgers eigenartige Kopfform zum Vorschein und erweist ihn als engstirnig und vor allem kleinhirnig: Nach oben in die Spitze zulaufend, bietet er wenig Platz für Hirn. Bert Brecht spielt im Titel seines Theaterstücks „Die Rundköpfe und die Spitzköpfe“ auf dasselbe Phänomen an. Schon Nietzsche hatte in seinem Gedicht „Nein wie fremd“ ähnlich formuliert: „Hohl der Kopf! Schon fliegt der Hut!“
 
In „Weltende“ wird nach einer später weitverbreiteten poetischen Technik verfahren: Begriffe werden scheinbar ohne Sinn vertauscht: Das Adjektiv „spitz“ wird vom gemeinten spitzen Bürgerkopf und dessen enger Beschränktheit auf die verhüllende Kopfbedeckung übertragen. In der dritten Zeile ist ähnliches zu beobachten: Eigentlich könnte man erwarten, daß der „Sturm“ Dachziegel herabreißt, die dann am Erdboden „entzwei“ gehen, gesagt wird aber, daß dies das Schicksal der „Dachdecker“ ist. Die Bedeutung des Zerstörungswerk entspricht der Stoßrichtung der Eingangszeile: Dem Bürger wird nicht nur der Hut, sondern auch das ihn bislang verbergende und schützende spitzwinklige Dach über dem Kopf weggenommen. Die im „Weltende“ lakonisch nach dem Muster von Zeitungsüberschriften („liest man“!) teilnahmslos vorgestellten teils banal-belanglosen, teils gewaltig-katastrophalen Geschehnisse wirken also nur auf den ersten Blick wie ein wahllos zusammen gewürfeltes Kaleidoskop, unverbunden und disparat; tatsächlich zeigen sie unterschwellig durchaus verwandte Themen und Strukturen.
 
In vielen expressionistischen Werken erscheinen die Menschen als Sachen, während die Sachen vermenschlicht werden. So wird hier ja auch den Naturgewalten das Verfügen über einen zielgerichteten eigenen Willen attestiert: Ganz bewußt wollen sie die „Dämme“ angreifen. Sie „hupfen“ zu diesem Zweck spielerisch wie Menschenkinder auf den Strand, wo sie die Staudämme nach Art eines im Sand spielenden Kindes „zerdrücken“ werden. Also wird man auch dem im Gedicht alles beherrschenden „Sturm“ eine solch zielgerichtete Zerstörung der bürgerlichen Welt und ihrer Fassaden zuschreiben müssen, zumal wenn man bedenkt, daß seit 1910 von Herwarth Walden eine in Berlin herausgegeben Zeitschrift unter dem Titel „Der Sturm“ erschien, in der gerade die jungen Expressionisten in vielerlei Form zum Kampf gegen das saturierte Bürgertum aufriefen. Van Hoddis ist hier mit einigen Erstveröffentlichungen vertreten. Die Charakterisierung des Raumes, in dem das ganze Gedicht situiert ist, entspricht dem Lebensgefühl der jungen Expressionisten, die sich von allen Seiten eingeschlossen fühlten, so daß Ernst Stadler immer wieder zum „Aufbruch“ (so nannte er seinen berühmten Gedichtzyklus') mahnte: Die jungen Dichter sollen „aufbrechen“, um bedrückende Begrenzungen aller Art „aufzubrechen“. Die ausweglose Vergeblichkeit stellt Georg Trakl eingangs seiner apokalyptischen Vision unter dem Titel „Winterdämmerung“ (diese Überschrift spricht eindeutig dasselbe Thema und die gleichen Intentionen an wie die Titel des Gedichts „Weltende“) in lakonischen Nominalsätzen aus. „Alle Lüfte“ bei van Hoddis entsprechen dem Plural bei Trakl „Schwarze Himmel“. Diese signalisieren gänzlich unentgehbare, umfassende Unterdrückung wie Ausweglosigkeit. Der Himmel ist in der Zeit der anbrechenden Apokalypse endgültig unzugänglich geworden: „Schwarze Himmel von Metall […]. Im Gewölk erfriert ein Strahl.“
 
Das Verb „hallen“ zu Beginn des Gedichts „Weltende“ erweist, daß nicht nur das Dasein im irdischen Bereich, sondern auch in „allen Lüften“ undurchdringlich umgrenzt ist, denn ein Hall kann eigentlich nur in einem geschlossenen Raum vernehmbar werden. Was hier widerhallt ist ein unartikuliertes, diffuses „Geschrei“, in dem sich die Angst vor dem Untergang artikuliert.
 
Banale und katastrophale Einzelheiten der Endzeitkatastrophe stehen am Ende wieder wie gleichberechtigt nebeneinander: Den verbreiteten „Schnupfen“ scheint jeder Betroffene für sich als ein ähnliches Unglück wie die sich seinerzeit häufenden fürchterlichen Eisenbahnunglücke zu werten: Sie werden von ihm als gleichwertig oder gleichrangig wahrgenommen und beurteilt.
Vielleicht im Rückgriff auf Fontanes berühmte Ballade „Die Brücke am Tay“ (vgl. Musenblätter 1.12.2019 und Heinz Rölleke: Die Magie von Wort und Zahl. NordPark Wuppertal 2019, S. S. 157-163) artikuliert die Schlußzeile indes auch Tendenzen der Technik- und Großstadtfeindlichkeit, wie sie im Expressionismus gang und gäbe wurden.
 
Ein kleines Gedicht mit ungeheurer Sprengkraft und Wirkung, eine Anthologie, die Dichtungen einer „verlorenen Generation“ sammelte und damit ihr Überleben sicherte: Man hat allen Grund, sich gerade 2020 dieser Gegebenheiten zu erinnern.
 
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2020

Redaktion: Frank Becker