Überall

Ein Reisefieber

von Rolf Nöckel

Rolf Nöckel - Foto © Frank Becker
Überall
 
Achtung, Achtung, hier spricht Ihr Kapitän. Wir nähern uns einer breiten Schlechtwetterfront und erwarten starke Turbulenzen. Bitte gehen Sie sofort zurück zu Ihrem Sitz und schnallen sich an! ”
     Irgendwo hoch über dem Atlantik, zwischen Berlin und Los Angeles: Rund 300 Menschen hocken plötzlich starr in ihren Flugzeugsitzen, haben Zeitungen, Bücher und Kopfhörer beiseite gelegt. Ihr besorgter Blick ist auf die Tragflächen gerichtet, die wild auf und nieder schwanken. Der Jumbo-Jet kämpft gegen ein unsichtbares Gegenüber, das die Riesenmaschine durchrüttelt. Wie ein lächerliches Spielzeug hüpft der viele Tonnen schwere Gigant in seinem 700 Kilometer schnellen Flug gegen die mächtige Wand aus Luft hin und her.
     Der gelangweilte Gesichtsausdruck von routinierten Vielfliegern ist verkniffenen Sorgenfalten gewichen. Die Stewardessen haben den Bordservice eingestellt, sie hangeln sich von Reihe zu Reihe und reden beruhigend auf die Passagiere ein: „Unsere Maschine ist extra so gebaut, daß sie im Sturm vibrieren kann. Wenn die Tragflächen starr und steif wären, dann würden sie ja abbrechen.“ Ob das wohl die richtige Wortwahl ist?
     „Mein Gott!” ruft die Frau neben mir und verkrampft sich in die Sitzlehne. Ein Junge, vielleicht acht Jahre alt, schreit „Papaaa!“ und streckt zitternd seine Arme in die Höhe. Alle Reisenden sind zum Nichtstun verurteilt. Sie können nur hoffen, daß dieser schlimme Spuk bald vorbei sein wird.
     Auch ich habe Angst. Ich denke an meine Frau, meine Kinder, meine Schwester. Ich schließe die Augen und singe leise vor mich hin. Ein Lied, das mir seit dem Gottesdienst gestern noch im Ohr liegt:
     „Bewahre uns Gott, behüte uns Gott, sei mit uns auf unseren Wegen. Sei Kompass und Wind, wo wir auch sind, sei um uns mit Deinem Segen.“
 
 
 
Mit freundlicher Erlaubnis aus „Kompass und Wind“ von Rolf Nöckel (1953-2017)
2005 WDL-Verlag, Berlin