Krieg

von Michael Zeller

Michael Zeller - Foto © Frank Becker
Krieg

Eine Anwandlung
 
Glocken  - wie das Läuten von Glocken . . .
Ohne jeden Schrecken hörte er das Heulen der städtischen Sirenen irgendwo in der Luft. Er war zu Fuß unterwegs an diesem Morgen, zu einem Termin, von dem er nicht mehr wußte  - ach, es lohnte sich doch gar nicht, darüber Gedanken zu  verlieren. Oder träumte er noch?
 
Alarm! Alarm zur Probe, und fern genug. Keinerlei schlimme Erinnerungen waren gespeichert in seinen Nerven. Ein Ernstfall? Welcher Ernstfall denn?
 
Für die paar Straßen in die Innenstadt hatte er wie immer das Auto stehen lassen. Im Gehen diese Augenblicke von Gedankenleere, die ihm immer willkommener wurden seit einiger Zeit. Er schaute hoch, zu der weißen Sonne im Novemberhimmel, blinzelte, ohne etwas zu erkennen, las, zwischen den Kellerfenstern eines Geschäftshauses, die drei Buchstaben  L  S  R, ein breiter Pfeil daneben – abwärts. „Luftschutzraum“.  Er blieb stehen. Die Schrift verblaßt. Älter als er. Bilder aus Filmen von damals überkamen ihn. Das Drängeln und Stoßen der Menschen, vieler dunkler Menschen vor den Eingängen der Keller. Etwas Unsichtbares war unterwegs, oben, am Himmel. Nur in die Gesichter der Menschen geschrieben – stumme offene Münder. 
 
Jetzt, ganz nah, grell, fuhr ihm das Warnsignal in die Knochen. Er  stand sofort still, zog den Kopf ein. Hob ihn, suchte über sich, in der Luft, mit verzogenem  Gesicht. Auf einem Dach entdeckte er die flache Schüssel der Sirene. Eine Schule. Warum immer auf Schulen?
 
Als er später dann, zu Mittag, im Café die Zeitschrift anblätterte, blieb er, mit vollem Mund, an der Lebensgeschichte des berühmten Bakteriologen aus der Vorkriegszeit hängen. Ein Foto war es, das ihn anzog: Der Geheimrat inmitten seines Salons. Ein Berliner Salon im Lüsterglanz der Pracht, so reich möbliert, daß sich der zierliche alte Mann darin kaum behaupten konnte. Derart aufwendig war jeder Winkel ausgestattet, als wollte er die Ewigkeiten übertrumpfen. An ein Wanken der Mauern war nicht zu denken, schon weil man das tragende Gemäuer gar nicht sah hinter all dem schweren selbstsicheren Dekor. Sogar die Pflanzen in den Kübeln mit getriebenen Löwenköpfen wirkten in dieser Umgebung unausrottbarer als der Dschungel einer Urzeit. Das Haus des Arztes stand längst nicht mehr, hieß es in der Zeitschrift. Dahingesunken in seiner dichten Materialität – wenige Jahre nur nach der Fotografie, im Krieg. Das Bild seiner Zerstörung fehlte, natürlich.
Doch dieser Leser im Café, mit leer gekautem Mund, er sah es auch so, mehr als deutlich: Mauerstümpfe ragten in einen blanken Himmel. Der Salon mit seinen eingepferchten Kostbarkeiten – Berge von Schutt. Dazwischen ein abgeknickter Gummibaum. Doch der Himmel darüber: Der Himmel war so groß zu sehen auf diesem selbstentworfenen Bild. Höher der Raum, wiedergewonnene Weite .
 
Seltsam! Der Café-Gast ließ die Zeitschrift sinken und schaute aus dem Fenster in die Sonne, die über dem Fluß stand und die ganze Gegend überblendete mit ihrem kalten Licht. Ja, ein Stück Freiheit war gewonnen durch die Zerstörung von eingezimmerten Sicherheiten. Ein Durchatmen war wieder möglich geworden, der Himmel erreicht, der freie Himmel.
 
Und es gingen ihm dabei seine eigenen kleinen Selbstauslöschungsversuche durch den Kopf, die halbgewollten Fluchten aus dem Leben, bei Kopfweh, Liebeskummer, Ärger im Beruf. Was soll das eigentlich hier alles? Ach, Ruhe, Ruhe, Ruhe . . .  Sehnsucht nach Ruhe. Oder seine angstvollen Experimente mit Nähe, das Herantasten an einen anderen Menschen, den man mochte, aber – wie es ihm sagen? Und so ließ man es am Ende, einmal mehr.
 
Wenn uns allen das Dach über dem Kopf weggeschlagen wäre, grübelte der Mann weiter, in der Ecke seines Cafés, dann trauten wir uns vielleicht wieder mehr. Bestimmt sogar. Dann wäre wieder Direktheit zwischen uns, und Nähe, Nähe aus Not. Und er fing an,  in diesem Moment, von der großen Einfachheit der Gefühle zu träumen, mit Löwenzahn und Disteln und all dem wildwuchernden Kraut um die frischen Trümmer unserer zerstörten Sicherheit.
 
Wie verstellt unsere Wege sind, die wohlgepflegten, mit Bedacht gezogenen. Betreten verboten, Gehen erlaubt. Bei Rennen erst die Genehmigung des Hausmeisters einholen. Fliegen ganz und gar unerwünscht. Vorsicht, Lächeln auf eigene Gefahr, besonders bei Schnee und Eis.
 
Und das Eis blieb liegen. Auch im Sommer, bis in den Herbst.
 
Der Mann zeigte der dünnen Sonne draußen ein Lächeln, das schwer zu lesen war.
 
 
© Michael Zeller 2020