„Hört meine letzten Worte.“

Peter-André Alt - 'Jemand mußte Josef K. verleumdet haben …' - Erste Sätze der Weltliteratur und was sie uns verraten

von Frank Becker

Alice fing an, sich zu langweilen…
 
Weltliteratur in ersten Sätzen
 
 
Schreib den ersten Satz so, daß der Leser
unbedingt auch den zweiten lesen will.
William Faulkner
 
Wer hätte nicht schon vor einem leeren Blatt Papier gesessen und nach einen Anfang gesucht. Wohl jeder, der einen Brief oder einen Aufsatz zu schreiben, eine Geschichte zu erzählen oder einfach nur ein Versicherungs-Formular mit einer Begründung auszufüllen hatte, hat schon diese Erfahrung gemacht: „Wie fange ich bloß an?“ Da füllte manches geknüllte Blatt den Papierkorb und Bleistiftenden blieben zerkaut auf der Strecke. Wer früher auf einer Schreibmaschine tippte – manche tun es, hört man, noch heute - erinnert sich an das ratschende Geräusch, mit dem das mißlungene Blatt aus der Walze gerissen wurde. Aber es war und ist so: Entscheidend ist der Anfang
 
Das betrifft auch und vor allem die Welt der Schriftstellerei – wenn der erste angebotene Satz uns nicht in den Roman, in die Erzählung hineinlockt, war die Mühe des Autors vergebens. Werke der  Weltliteratur konnten nur so zu solchen werden, meint der Literaturwissenschaftler Peter-André Alt und untersucht das Phänomen an Beispielen von Homer bis Volker Kutscher in seinem Buch mit dem Untertitel  'Erste Sätze der Weltliteratur und was sie uns verraten'.
„Jemand mußte Josef K. verläumdet haben, denn ohne, daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet“ ist so ein erster Satz der Weltliteratur, und wie dieser von Franz Kafkas „Der Process“ (1924) sind einige so berühmt geworden, daß man sie kennt, auch wenn man das Werk vielleicht nie gelesen hat.
Der erste Satz ist bekanntlich der schwierigste - und der wichtigste. Er muß den Leser verführen und verrät meist mehr, als wir bei der ersten Lektüre wahrnehmen. Manchmal enthält er im Kern schon die ganze folgende Geschichte. Peter-André Alts lustvoller Streifzug durch die Weltliteratur führt an großen Texten von der Antike bis zur Gegenwart vor, wie deren Anfänge jenen Pakt mit dem Leser schließen, der die erste Neugier in andauernde Leselust verwandelt, schreibt der Verlag in seinem Klappentext zu dem Buch, das übrigens mit dem Satz „Am Beginn jeder Erzählung steht ein Verführungsversuch“ beginnt. Also muß es auch für Fachliteratur gelten, zumal wenn diese neben der Information auch unterhalten will. Also lassen wir uns verführen, denn beides, verführen und unterhalten tut Peter-André Alts kundiger, eloquenter Essay ganz vorzüglich. 249 Beispiele aus allen Genres quer durch die Literaturgeschichte hat Alt zum Vergnügen des immer lesehungriger werdenden Rezipienten ausgewählt, Werke der Antike (Vergil, Ovid, Homer) stehen neben exemplarischen Titeln deutscher, englischer, russischer, italienischer und französischer Genien von der Klassik bis ins 20. Jahrhundert. Zur Weltliteratur zählt Alt auch Kriminalromane, Science Fiction und Kinderbücher (was wäre die Welt ohne Pippi Langstrumpf oder Käpt´n Blaubär?), Erotisches und (Hermann Brochs Meinung zum Trotz) auch Kitsch.

Man kann die 15 knappen und dadurch übersichtlichen Kapitel in ihrer Abfolge lesen, aber auch nach Lust und Laune den Verlockungen ihrer Überschriften folgen, z.B. „Steckbrief einer Peron“ (vom Leviathan bis Emma), „Spannung“ (von Arthur Conan Doyle bis H.G. Wells) oder „Spiel der Ironie“ mit Beispielen von Jean Pauls „Hesperus“ bis Brett Easton Ellis´ „American Psycho“. Es ist für jeden etwas drin und es ist neben der literaturwissenschaftlichen Beleuchtung erster Sätze auf jeden Fall auch eine Fundgrube voller Leseanregungen, bei der sich niemand langweilen wird. Das chronologisch aufgebaute Register am Schluß verführt umso mehr zum Stöbern in diesem köstlichen Band, als ein alphabetischer Index zum Auffinden von Autorennamen oder Romantiteln fehlt. Absicht oder Versäumnis? Das Vergnügen nebst dem Erlebnis der literarischen Erkenntnis wird dadurch nicht geschmälert. Eine Empfehlung der Musenblätter.

Peter-André Alt - 'Jemand musste Josef K. verleumdet haben …'
Erste Sätze der Weltliteratur und was sie uns verraten
© 2020 C.H. Beck, 262 Seiten, gebunden, Schutzumschlag, Register – ISBN: 978-3-406-75004-5
26,95 €
 
Weitere Informationen: www.chbeck.de