Die Geschichte der Umarmungen
Wenn wir heutzutage in Zeiten, wo wir uns nicht mehr umarmen sollen, unsere Umarmungen vermissen, dann möchte ich doch an früher erinnern, wo sich in Paderborn noch gar nicht so selbstverständlich umarmt wurde. Wir sind Ostwestfalen. „Abstand“ ist unser zweiter Vorname. Wenn man sich in der Stadt zum zweiten Mal traf, dann rief man von weitem: „Wenn wir uns noch mal begegnen, dann gibste aber einen aus.“ So machte man automatisch einen weiten Bogen um die Innenstadt, weil man nicht schon am Nachmittag besoffen sein wollte. Dörenhagen ist so entstanden. In Dörenhagen wohnen im Grunde Menschen, die in Paderborn keinen ausgeben wollten. In meiner Heimatstadt Paderborn, war der erste Mann, der mich öffentlich umarmt hat, mein Freund Toto Blanke. Er war auch der erste, der sich als Mann elegant gekleidet hat. Männer haben sich früher nicht elegant gekleidet, man zog sich einfach an und hoffte, damit alles wichtige bedeckt zu haben. Das hat sich im Grunde bis heute kaum geändert. Toto Blanke war elegant angezogen und hat einen umarmt, wenn man ihm auf dem Markt begegnet war und er dort Rucola eingekauft hat. Die Paderborner waren in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts sehr vorsichtig und zurückhaltend. Es kam zwar in den Jahren 1973 bis 1977 mal vor, daß man sich in aller Öffentlichkeit umarmte, aber dann war Libori und man war betrunken. Schornsteinfeger und Bäcker wurden grundsätzlich nicht umarmt, obwohl das Glück bringen sollte. Wenn man sich umarmte, dann war das wie ein Eheversprechen. Kindergärtnerinnen durften umarmt werden, aber nur von den Kindern. In Dörenhagen wird sich auch heute noch nicht umarmt. Warum auch? Im Grunde dient es nicht der Fortpflanzung und man verpaßt den Zug. In diesen Jahren umarmte ich Claus Lavall, einen bekannten Paderborner Schlagersänger, der auch außerhalb der Domstadt seine Fans hatte. Er hieß eigentlich Klaus Vahle und sein Vater hatte ein Brillengeschäft gegenüber der Hauptpost. In der Showbranche ist es üblich alle zu umarmen, ohne sich zu berühren und selbst wenn man sich küsste, deutete man den Kuß nur an. In der Zeit hatte Jürgen Marcus den Hit: „Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben.“ Und dann zog er mit dem rechten Arm zweimal an einer imaginären Notbremse. Zack, zack, eine unglaubliche Nummer. Claus Lavall feierte gerade erste Erfolge mit der Single „Nachts lieg ich wach“ (Telefunken 1971) und brauchte unbedingt einen Nachfolgehit. Also sprach er mich an, ob ich ihm einen Hit schreiben könnte. Er sollte sein wie: „Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben.“ Und dann machte er dieses magische Ziehen der Notbremse nach, und ich wußte, daß er ein Alleinstellungsmerkmal suchte, daß ihn sofort in der Schlagerwelt berühmt machen würde. So einen Hit schreibt man nicht so schnell. Am nächsten Tag gab ich Claus diesen Text: „Umarmen, Umarmen, hab doch mit mir Erbarmen. Ach, süße, liebe Carmen, du weißt, ich liebe dich. Umarmen, Umarmen, an Tagen, auch den warmen. Ach, süße, liebe Carmen, ich weiß, du liebst auch mich.“ Leider nahm er diesen Song nie auf. Ich bin immer noch überzeugt, daß dies ein großer Erfolg geworden wäre. Ich traf jetzt in den Zeiten, wo man sich nicht mehr umarmen soll, meine Freundin Hannelore. Wenn wir uns sonst sahen, haben wir uns immer umarmt. „Wir holen das später alles nach“, rief sie mir von weitem entgegen. Ich lachte, ich meine, vielleicht war auch noch mehr drin.
Die Selbstumarmung
Die Selbstumarmung kann oft die letzte Zuwendung sein, die einen einsamen Menschen über Wasser hält. Ich halte diese Form der Zweisamkeit für normal und durchaus für gottgewollt. Man weiß doch selbst am besten was einem gut tut. Umarmen sie sich. Drücken sie sich so feste an sich, als schwebten sei gemeinsam an einem Fallschirm auf die rettende Erde. Sagen sie dabei: „Ich laß dich nicht im Stich. Du bist mein ein und alles. Ohne dich ist mein Leben sinnlos.“ Man kann und muß nicht lachen, wenn man sich selbst kitzelt. Man kann keine Liebeslieder summen, wenn man sich die Nase zuhält. Bei der Selbstumarmung sind uns keine Grenzen gesetzt. Manche gehen sich selbst durch die Haare und flüstern: „Ich lasse mir morgen deine Haare schneiden.“ Andere klopfen sich auf die Schultern, als hätte man großes geleistet, als hätte man vor Glück sich verschluckt. Ich kenne Selbstumarmer, die können nicht mehr die Finger von sich lassen. Ich habe einen Freund, der lackiert sich bei einer Selbstumarmung die Fingernägel, und gibt sich der Illusion hin, da hätte sich jemand eigens für ihn herausgeputzt. „Du willst es doch auch.“ Ein Nachbar von mir, der flüstert dazu immer seine Liebesschwüre, um der Situation einen intimeren Touch zu geben: „Ich weiß, ich habe deinen Geburtstag vergessen, aber wie soll ich ihn mir merken, du siehst einfach auch nicht älter aus.“ Lernen sie bei aller Liebe auch mal „nein“ zu sagen. Man muß nicht alles machen, was sie von sich verlangen. „Laß das Ohr im Ruhe. Ich warne dich.“ Gerade wenn man sich so gut kennt, wie sie sich kennen, sind Geheimnisse aufregend und ersparen die zu frühe Vorhersehbarkeit. Das ist eine Win-win-Sitation, eine Er-win-Situation, „Ich bin nun treu. Ich liebe mich.“ Man kann sich auch selbst in den Hintern treten, doch das macht nur Sinn, wenn man bei der Selbstumarmung an jemand anderen gedacht hat.
© Erwin Grosche 2020
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