Der alte Mann und sein Hund
Folge 22
Der alte Mann ging mit seinem Hund spazieren. Ihm war eigentlich danach ein Lied zu pfeifen, aber ihm fiel kein Lied ein. Er hoffte heute niemanden zu treffen. Er hatte sich seit Tagen nur mit seinem Hund unterhalten und wußte gar nicht mehr, wie man sich so gibt. Kleine Höflichkeitsfloskeln würde er wohl hinbekommen, aber bei großen Gedankenkungebungen müßte er passen. So ging er durch den Haxtergrund und suchte Wege aus, die nicht so bekannt waren und nur von Hundebesitzern benutzt wurden. Natürlich mußte man überall mit Geländefahrradfahrern rechnen. Geländefahrradfahrer waren überall, selbst dort, wo es kaum Gelände gab, mußte man mit Geländefahrradfahrern rechnen. Schon daß er dachte, hier könnten Geländefahrradfahrer rumfahren, ließ ihn auf der Hut sein und sich dauernd umdrehen. Er trottete den Waldweg hinab und sah seinem Hund zu, der unten an der Gabelung des Weges stehengeblieben war.
Der alte Mann lauschte. Er hörte das typische Geräusch einer Säge, die sich mit aller Kraft durch das Holz biß. Schließlich entdeckte er einen Waldarbeiter, der hinter einem Holzstoß mit Ohrenschutz und Schutzbrille stand, um mit dem Arbeitsgerät einen Fichtenstamm zu zerkleinern. Er kannte den Waldarbeiter. Er hatte ihn schon mal getroffen, aber da war seine Säge nicht angesprungen und er mußte den Mann beim Sägenreparieren trösten und ihm zuschauen, wie er sie geduldig streichelte. Heute war die Welt des Waldarbeiters in Ordnung, und er konnte einen Baumstamm nach dem anderen zerlegen und beweisen wer der Herr im Walde war. Der alte Mann räusperte sich. „Ihre Säge geht wieder?“ Natürlich hörte er, daß die Säge wieder ging und er hätte am liebsten nichts gesagt, aber man ging nicht grußlos an Menschen vorbei, deren Gesicht einem das Herz zerriß. Der Waldarbeiter schaute kurz auf, ohne seine Arbeit zu unterbrechen. „Ihre Säge geht also wieder“, rief der alte Mann noch einmal und zeigte auf das kreischende Ungetüm. Der Waldarbeiter schob den Ohrenschutz von seinen Ohren, hob stolz die kreischende Säge, hatte aber kein Wort verstanden.
Der alte Mann bereute schon seine Kontaktaufnahme, aber man läuft keinem Bus hinterher, wenn man gar nicht mitfahren will. „Ich fragte nur, ob die Säge wieder geht?“, rief er noch einmal. In diesem Augenblick fing der Hund an zu bellen, als wäre ein Geländefahrer an ihm vorbei geprescht, und machte das Durcheinander perfekt. Endlich stellte der Waldarbeiter seine Säge aus und schaute sein Gegenüber erwartungsvoll an. Der alte Mann räusperte sich. Sollte er zum vierten Mal fragen, ob die Säge ginge? Gab es überhaupt einen Menschen auf der Welt der wissen wollte, ob die Säge wieder einsatzbereit war, zumal man dies laut und deutlich im ganzen Haxtergrund hören konnte? Nie konnte er sich benehmen, dabei war es doch in Paderborn so einfach ein Gespräch zu führen. Wenn man jemanden traf, der zu einem sagt: „Was haben wir heute ein schönes Wetter.“, dann entgegnet man einfach: „Aber ein bißchen Regen wäre auch nicht schlecht, da freut sich die Natur.“ So einfach war das. Da bleibt der Mensch des Menschen Freund und übersteht alles Unerwartete mit der typischen ostwestfälischen Gelassenheit. „Ich wollte nur fragen, ob die Säge wieder geht“, sagte also der alte Mann, und der Waldarbeiter antwortete: „Zum Glück, das letzte Mal ging sie nicht.“ Der alte Mann atmete auf. Das Gespräch hatte einen Anfang und ein Ende gehabt. Man hatte sich nicht nur unterhalten, sondern auch Wissen ausgetauscht. Das war noch einmal gut gegangen. Nach einem kurzen Gruß gingen sie auseinander. Der alte Mann hörte noch, wie der Waldarbeiter danach vergeblich versuchte seine Säge wieder in Gang zu bekommen. Der alte Mann ging schnell weiter. So war das in Paderborn. Manchmal scheinen die Träume vollkommen zu sein, doch plötzlich kommt ein Geländefahrradfahrer vorbei und man rettete sich nur durch einen Sprung in die Mittelmäßigkeit aus der Gefahrenzone.
© Erwin Grosche 2020
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