Der Genitiv

von Wendelin Haverkamp

Wendelin Haverkamp - Foto © Manfred Zehner
Der Genitiv
 
Ist Ihnen auch aufgefallen, daß wir von unserer eigenen Sprache immer weniger wissen? Wer weiß denn überhaupt noch, was ein Genitiv ist? Nehmen wir ein Beispiel aus der jüngeren Sprachgeschichte: Der Fall der Mauer. Was haben wir da eigentlich, sprachlich gesprochen? Ist das jetzt ein Genitivus objektivus? Oder subjektivus? Oder partitivus? Oder einer für den Staatsanwalt? Oder ist da was gefallen?
     Man macht den Fernseher an und denkt, mal gucken, was die einem sagen wollen, und ab geht es: Temporeiche Sequenzen, rasante Kamerafahrten, blitzschnelle Schnittfolgen, bis man merkt: Es hat gar keiner was gesagt. Die deutsche Sprache löst sich auf, ohne daß einer was gesagt hat - und schon kriegt man nichts mehr mit.
     Wenn ich also eben fragen darf, Sie brauchen auch nicht zu antworten, nur daß Sie vielleicht kurz in sich gehen und gucken, ob noch was im Hause ist: Was ist ein Genitivus objektivus? Sehen Sie. Und subjektivus? Aha!
     Nicht, daß das jetzt schlimm wäre, um Himmelswillen. Man ist ja nicht blöd, bloß weil man am frühen Morgen nicht auf Anhieb weiß, wann ein Genitivus objektivus ist respektive subjektivus; das weiß der Genitivus ja selber nicht. Aber andererseits kann es nicht schaden, die Gunst der Stunde (Genitiv, is, klar) und zwar zu nutzen, um eine kleine Grammatik-Auffrischung vorzunehmen, denn wir alle wissen: Walter and Conny are still in the bedroom - sag ich ja.
     Insgesamt gibt es vier, erinnern Sie sich noch? 4 Fälle, aber gewiß! Es sind vier: Erster Fall, zweiter Fall, dritter Fall, vierter Fall. Ich weiß, weiter als drei ist immer schwierig, aber es sind vier, dochdoch! Wer Zeitung liest, hält es kaum für möglich, aber es stimmt - die Älteren werden sich erinnern.
     Beginnen wir als Einstieg mit dem Einfacheren, dem dritten und dem vierten Fall: „Der Bundestag zog in den Berliner Reichstag“. Wie fragen wir da, Herr Bundespräsident? Nein, nicht warum! Wer so fragt, der würde ja gar nicht. Es muß heißen: Wohin zieht der Bundestag? In den Berliner Reichstag, richtig, auf die Frage „wohin“ Akkusativ; sie brachen zum Beispiel ins Horn und zogen in ihr Verderben - alles Akkusativ.
     Wohingegen auf die Frage „wo“ immer der Dativ kommt, Beispiel: „Im Reichstag brennt es.“ Wo brennt es? Natürlich im Reichstag, wo denn sonst. Hingegen, nochmal andersrum: „Die DVU will in den Reichstag“, da haben wir wieder den Akkusativ, denn wohin will die DVU? Korrekt, in den Reichstag, ohne jemanden beschuldigen zu wollen, aber in diesem Fall wieder Akkusativ, während es auf die Frage „wo!“ brennt, und zwar im Dativ.
     Sie sehen: Man muß nur die richtigen Fragen stellen, dann kommt sofort alles raus. Anderes Beispiel? Gerne, aus der Zeitung: „In Brandenburg werden täglich Ausländer zusammengeschlagen.“ Was fragt man sich da natürlich? Jawoll: Wo werden Ausländer? In Brandenburg, also Dativ, und zwar täglich auf die Frage wo, ist doch gar nicht so kompliziert.
Oder, nur mal zur Kontrolle: „Vietnamesen trauen sich nach 18 Uhr nicht mehr auf die Straße.“ Was wollen wir da als erstes wissen? Na klar! Wohin trauen sich die Vietnamesen nach 18 Uhr? Nicht auf die Straße, Akkusativ, is, doch gar nicht so schwer, das hat auch der Rußlanddeutsche in wenigen Wochen drauf.
     Aber Obacht: Vor der Eisdiele wurde ein Nigerianer mit dem Baseballschläger am Kopf lebensgefährlich und so weiter, da haben wir sogar zweimal Dativ: Wo wurde ein Nigerianer? Vor der Kneipe, und zwar am? Kopf, seh´n Sie, es geht doch. Sie merken, es macht Spaß, sich mit der Sprache zu beschäftigen, da kriegt man richtig Fun am Sprechen.
Und nun Achtung, liebe LeserInnen, Vorsicht ist bei Präpositionen wie „vor“ und solchen Konsorten angebracht: „Er trat dem Tunesier mit Springerstiefeln vor den Kopf“. Da ist man natürlich erstmal ein bißchen irritiert; steht da nicht der Dativ nach, wie bei: „Der Körper lag reglos vor dem Kiosk“?
     Na und ob! Weil auf die Frage: „Wo lag der Körper?“ steht der Dativ wie er leibt und lebt, und zwar reglos vor dem Kiosk, aber „mit Springerstiefeln vor den Kopf“, das ist Akkusativ, denn die Frage lautet ja „wohin“.
     Da spüren wir, welche Nuancen in unserer schönen deutschen Sprache stecken. Erst mit dem Akkusativ kann man die Bewegung selbst zum Ausdruck bringen: Vor den - Kopf, da ist praktisch die Beschleunigung direkt in Sprache umgesetzt. Wohingegen: „Der Italiener wurde vor der Kneipe erstochen“, da ist ja überhaupt keine Bewegung drin, weil: „Wo wurde der Italiener? - Vor der Kneipe“, da geht es nur um eine statische Ortsbestimmung.
     Es ist gar nicht so schwer, man muß nur die richtigen Fragen stellen! Dann lacht die generative Transformationsgrammatik und Frau Syntax wundert sich. Aber nun endlich zum Genitiv, dem edelsten und schwersten aller Fälle. Nehmen wir hier ein besonders schönes Beispiel, ein poetisches: „Die Träume der 68er“ - was will uns dieser zweite Fall objektivus, subjektivus oder partitivus sagen?
     Wurde da womöglich im Iahre '68 objektiv geträumt? Oder geht es um 68jährige, deren Buer-Lecithin subjektiv versagt hat? Oder hat da eine ganze Ho-Ho-Ho-Chi-Minh-Generation Alzheimer, und zwar so partiell, daß nur noch 68 Hohoho übriggeblieben sind?
     Fasse zusammen: Wußten Sie eigentlich, warum sich so viele 68er ihre langen Haare haben abschneiden lassen? Ganz einfach: Die Länge der (is) klar jetzt?) Haare störte immer so furchtbar bei (genau) der Mülltrennung, wenn man sich ein Stück weit in die (na also) Tonnen bücken muß.
     Ich aber sage Euch: Danke, ich werde schon geholfen.
 
 
Aus dem Buch „Parmesanides“, Aachen 2003