„Selbdritt“ - „Selbander“

Bemerkungen zu einer alten sprachlichen Wendung

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
„Selbdritt“ - „Selbander“
 
Bemerkungen zu einer alten sprachlichen Wendung
 
Von Heinz Rölleke
 
In neuerer Zeit wissen viele Menschen nicht mehr, was alte, nur noch höchst selten gebrauchten  Wortbildungen wie „selbviert“ oder „selbfünft“, insbesondere aber „selbander“ bedeuten, obwohl solche immer aus dem Fürwort „selb“ (verkürzt statt „selbst“) und einer Ordinalzahl gebildeten Komposita bis zum Ende des 19. Jahrhunderts im allgemeinen Gebrauch waren; heute trifft man sie nur noch vereinzelt in archaisierender Sprache an, mit der künstlich ein höheres Alter eine Redetextes oder einer Dichtung imaginiert wird.
 
Die Bedeutung dieser Wortbildungen ist aus alten Kontexten leicht erschließbar: „selbdritt“ meint „zu dritt“, dabei ist das Subjekt (ein „Ich“, ein „Du“, ein „Er“ usw.) in solchen Zahladverbien immer eingeschlossen: „Ich“ als Teil einer Dreiergruppe, also das jeweilige Subjekt und zwei weitere Personen. In Beschreibungen Bildender Kunst hat gerade „selbdritt“ in der Formel „Anna selbdritt“ überlebt. Damit sind Andachtsbilder gemeint, auf denen die heilige Anna „selbst“ zusammen Maria und Jesus dargestellt sind: Anna plus zwei weiteren Personen also. Entsprechend meint „selbviert“ eine Person plus drei weiteren. In einem frühmittelhochdeutschen Text (vgl. das Grimm'sche Wörterbuch) heißt es: „ich bitte dich, dasz du [...] selb-dritte, selb-vierte kommest.“ Das meint: Ich bitte dich, in (nicht mit!) einer Gruppe von dreien oder vieren zu kommen.
 
- Die selten belegte Wendung „selbdreizehent“ findet sich auf einem Nürnberger Grabstein aus dem Jahr 1427:
 
                        „Jch starb aus meinem Haus selbdreyzehent auf einen Tag.“
 
                        Ich bin in meinem Haus mit zwölf anderen an einem einzigen                   
                       Tag gestorben.  -
 
Die scheinbare Eigenwilligkeit der älteren deutschen Sprache, die eigentümliche Zahlenreihe mit „selbdritt“ und nicht mit „selbzweit“ zu eröffnen, entspricht dem damaligen Sprachstand, gemäß dem der „Zweite“ der „Andere“ genannt wurde.
 
In der heute noch gebräuchlichen Wendung „bei-ein-ander“ ist die ursprüngliche Bedeutung  verblaßt, aber noch eindeutig  erkennbar: Statt der veralteten Wendung, „dass wir zwei selbander sind“ heißt es vom jungen Liebespaar am Ende des „Rosenkavalier“ im gleichen Sinn: „Daß wir zwei beieinander sein.“ Einer bei oder mit einem Zweiten (Anderen) zusammen, eng zusammen sein (auch: beieinander liegen). Bei Goethe findet sich das recht eindeutig ausgesprochen:
 
                        „Gedenkst du noch der Stunden,
                        Wo eins zum andern drang?
                        […]
                        Dann herrlich! Ein Selbander,
                        Wie es mich noch erfreut.“
 
Hier steht die Substantivierung des Adverbs als Umschreibung für den Beischlaf zweier Liebender. In ähnlichen Anspielungen findet sich das Wort zuweilen auch sonst bei Goethe, so wenn er dem Römer Cato unterstellt, er habe andern Moral gepredigt, aber selbst gern gehurt:                
 
                        „Cato wollte wohl andre strafen,
                        Selbander mocht' er gerne schlafen.“
 
Goethe steht damit in alter Tradition, wie etwa eine Volksliedaufzeichnung aus dem Jahr 1470 bezeugt:
 
                        „selbander solt du bleiben,
                        wilt du lieb sach treiben.“
 
                        Wenn du der Liebe pflegen willst,
                        mußt du zu zweit eng beieinander bleiben.
 
In einer Novelle Theodor Storms findet sich eine wohl ähnlich gemeinte Anpielung:
 
                        „Nebenan sollte […] Jovers mit seiner ehrsamen Haushälterin                   
                        selbander speisen.“
 
In neutraler, sozusagen harmloser Bedeutung braucht Goethe das Adverb allerdings häufiger: „So etwas müsse man selbander sehen“ (so etwas sollte man zu Zweit, zusammen, miteinander betrachten).
 
Auch in dieser Bedeutung steht „Selbander“ in sehr alter Tradition. So heißt es im nach 1250  entstandenen „Tristan“ des Heinrich von Freiberg:
 
                        „selbander ie die vrouwe reit
                        […]
                        ie zwô neben einander.“
 
                        Die Dame ritt immer zu Zweit aus,
                        je zwei (Frauen) nebeneinander.
 
Die noch ganz selbstverständlich gebrauchte Verwendung der alten Form in Dichtungen des 19. Jahrhunderts mögen zwei Beispiele erweisen. In einem Gedicht Heinrich Heines kann man lesen:
 
                        „Ich und mein Schatten, wir wandelten schweigend selbander
                        einher.“
 
In Richard Wagners Oper „Der Ring des Nibelungen“ (Uraufführung 1876) heißt es, als Siegfried und der Zwerg Mime unter der Linde angekommen sind:
 
                        „Eine volle Nacht im Walde             
                        Selbander wanderten wir.“
 
Unter derartigen Zahlbezeichnungen von Zwei bis Neunzehn war wohl das Adverb „Selbdritt“ am häufigsten und die längste Zeit im Gebrauch. In seiner Schwanksammlung „Schimpf und Ernst“ (1522) erzählt Johannes Pauli von einem „Fürst auff seinem Wagen selbdritt“, das heißt der Fürst und zwei Begleiter fuhren in einem Wagen. Im Tierepos „Reineke Fuchs“ (1794) erzählt Goethe: „Ja, selbdritt erschien der Wolf, er hatte zwei Kinder.“ Und noch Hofmannsthal läßt den „Jedermann“ (1911) vor seinem Gang ins Grab zu „Glaube“ und „Werke“ sprechen: „Ihr Freunde, ich mein, wir gehen selbdritt.“
 
Während die Bezeichnung „Selbander“ heute nicht mehr gebräuchlich ist (wird im Google-Rechtschreibprogramm als fehlerhaft moniert), ist  „Selbdritt“ (was Google meist gelten läßt) noch aus dem Wortfeld christlicher Ikonographie bekannt geblieben. Die seit dem frühen 14. Jahrhundert als Skulpturen oder Bilder hundertfach entstandenen Darstellungen der heiligen Anna zusammen mit ihrer Tochter Maria und ihrem Enkel Jesus, unter denen die älteste in der Nikolaikirche in Stralsund (um 1300) und die bekannteste das im Louvre befindliche Bild des großen Leonardo da Vinci sind (entstanden 1513), firmieren bis heute unter dem Titel „Anna selbdritt“ (französisch „La Sainte Anne trinitaire“; im Italienischen bezeichnet man die Darstellung der „Sant'Anna insieme alla Madonna e a Jesù Bambino“ als „Anna metterza“).
 
Diese Bezeichnung hat sich im Bereich der Volksfrömmigkeit, wenn auch oft unverstanden, wohl auf die Dauer als eine Art Namensbezeichnung mißverstanden, erhalten. Das erweist etwa die falsche Betonung des Kompositums. Meine Mutter (Jahrgang 1903) pflegte zeitlebens „Anna sélbdritt“ und nicht „Anna selbdrítt“ zu betonen. Ähnlich 'falsch' betonte sie auch stets die Bezeichnung der kleinen Annakapelle in ihrem mainfränkischen Heimatdorf Pflaumheim als „Annahéischen“ (statt „Ánnahäuschen“). In beiden Fällen zeigt es sich, daß der eigentliche Sinn der alten umschreibenden Bezeichnungen in weiten Kreisen nicht mehr verstanden, sondern als eine Art Namensform tradiert wurde. Dabei ist in Rechnung zu stellen, daß die nicht ohne Weiteres verständlich Verehrung der nicht biblisch belegten heiligen Anna als Mutter Mariae und Großmutter Jesu sich nach zögerlichen Anfängen im späten 13. Jahrhundert seit dem 15. Jahrhundert zu einem mächtigen, vor allem vom Einfachen Volk getragenen Kult entwickelte. Anna wurde als besondere Schutzheilige unter anderen der Mütter, Ehefrauen, Ammen, Gebärenden, der Bergleute, Weber, Schiffer und Kaufleute angerufen. Davon zeugen viele Votivtafeln in den seinerzeit in großer Zahl ihr zu Ehren gestifteten Kapellen. Da sich solche Heiligtümer in erstaunlicher Menge um den Hohen Meißner nachweisen lassen, hat man wohl nicht ganz zu Unrecht schließen wollen, dass die Heilige Anna als Große Mutter Funktionen der früher in diesen Gegenden besonders verehrten Frau Holle übernommen hatte.
 
Die Päpste haben kirchenoffiziell der Annaverehrung erst später ihre Zustimmung gegeben: Papst Sixtus IV. nahm die angebliche Vorfahrin Jesu 1481 in den Heiligenkalender auf, und 1584 bestimmte Papst Gregor XIII. den 26. Juli zum (noch heute in der katholischen Kirche begangenen) Festtag der Mutter Mariae.
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2020
 
 
 Redaktion: Frank Becker